Tag 9: Von Zenarruza nach Eskerika (28 Kilometer)
Was für ein Matsch! Der Waldweg vor mir sieht aus wie der Boden eines Schweinegeheges. In der Nacht hat es wieder ein wenig Nass von oben gegeben – dementsprechend rutschig ist nun der Pfad.
Gegen 8 Uhr bin ich mit Moira und Ilona in den kühlen und wolkenverhangenen Morgen gestartet. Ich hatte kurz überlegt, ob ich alleine loslaufen soll – irgendwie hatte ich Lust auf ein wenig Einsamkeit und Ruhe. Dann aber hat es sich gefügt, dass wir zu dritt diesen Jakobsweg-Tag beginnen.
Wir kommen nur langsam voran. Immer wieder müssen wir aufpassen, dass wir nicht ausrutschen und stürzen. Die beiden Damen sind klar im Vorteil: Sie haben Trekkingstöcke dabei und können sich an den kritischen Stellen abstützen. Ich dagegen stoße bei solch einem Wetter mit meinen Five-Fingers an Grenzen – die Sohle schützt die Füße zwar vor Steinen und Asphalt, hat aber keinerlei Profil. Dem matschigen Weg haben sie nichts entgegenzusetzen.
Nicht gerade einfacher wird es durch die Last auf dem Rücken: Der Rucksack schwankt und bringt mit hin und wieder aus dem Gleichgewicht. Dennoch habe ich es bisher geschafft, die Schlammrallye unbeschadet zu überstehen. Jetzt aber stehe ich vor einem nicht nur besonders matschigen, sondern auch besonders steilen Stück Weg – und merke, wie die Mutlosigkeit von mir Besitz ergreift. Wie soll ich hier nur unbeschadet weiterkommen?
Doch es naht Rettung: Moira tritt mir heldenmütig einen ihrer beiden Trekkingstöcke ab. Ich rechne ihr das hoch an, schließlich hat sie auch gehörig zu kämpfen mit dem widrigen Terrain. Mit dem Stock komme ich wesentlich sicherer voran. Zwar muss ich weiterhin aufpassen, nicht wegzurutschen, und werde wahrscheinlich gleich von einer Nacktschnecke überholt. Aber ich schaffe die Passage ohne Sturz. Dankbar gebe ich den Stock an Moira, meinen Engel, zurück, und verstehe nun, warum die Vorsehung mich heute morgen nicht alleine hat starten lassen.
Kurze Zeit später wartet die nächste Herausforderung auf uns: Ein mächtiger Baum liegt quer über dem Weg. Ausweichen ist unmöglich, dazu ist das Gelände viel zu sumpfig. Drüberklettern ist ebenfalls undenkbar, dazu ist der Stamm viel zu dick. Also bleibt nur, unter dem Stamm hindurchzuklettern. Das ist leichter gesagt als getan, denn erstens wollen die Klamotten möglichst sauber bleiben, zweitens macht der Rucksack die Aufgabe nicht gerade leichter. Wieder erweist es sich als hilfreich, dass ich heute nicht alleine unterwegs bin – wir helfen uns gegenseitig unter dem Stamm hindurch.
Wir laufen noch eine Zeitlang gemeinsam weiter, dann wird das Gelände etwas weniger unwegsam. Ich fühle mich frisch und möchte einen Gang zulegen – schließlich habe ich mir heute eine ganze schöne Strecke aufgehalst. Viele Pilger werden heute nur bis Gernika gehen, ich dagegen habe mich entschieden, bis nach Eskerika weiterzupilgern. Irgendwie reizt es mich nicht so sehr, in Gernika zu übernachten. Die Stadt hat zwar eine ebenso interessante wie traurige Geschichte – sie wurde 1937 im spanischen Bürgerkrieg von der deutschen Legion Condor bombardiert und bis auf die Grundmauern zerstört. Die Übernachtung ist dort aber relativ teuer, es gibt nur eine Jugendherberge und eine Pension.
Dagegen klingt die Beschreibung der Herberge in Eskerika sehr einladend: Von einem alten, in mühsamer Kleinarbeit restaurierten Steinhaus ist im Führer die Rede, von einem schönen Garten und zwei pilgerfreundlichen Hunden. Zudem will ich möglichst nah an Bilbao herankommen, um vielleicht am nächsten Tag mit einer ebenfalls langen Etappe die baskische Metropole schnell hinter mir zu lassen – und wieder das Meer zu sehen, das ich schon zu vermissen beginne.
Ich verabschiede mich also von Ilka und Moira. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir uns auf dem Camino wiedersehen werden. Ich setze meinen Weg alleine fort und erreiche bald den Ort Munitibar.
Von hinten nahen zwei Pilger – es sind Arne und Rainer, die offenbar mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs sind. Wie haben sie es nur geschafft, so schnell durch die schlammigen Passagen zu kommen? Ich schließe mich ihnen an, doch wir sind nicht lange zu dritt: Arne möchte eine Pause machen und bleibt zurück. Ich setze meinen Weg mit Rainer fort. Schnell sind wir wieder im Gespräch, reden über dies und das. Ich merke wieder einmal, dass ich Schwierigkeiten damit habe, mich zu unterhalten und gleichzeitig darauf zu achten, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mehr als einmal wird mir Rainer zur Rettung – er weist mich auf gelbe Pfeile hin, die ich vor lauter Geplauder gar nicht gesehen habe.
Wir kommen an einer Kirche vorbei: aus der geöffneten Tür schallt Gesang. Siedendheiß fällt mir ein, dass ich ja schauen wollte, ob ich auf dem Weg eine Möglichkeit zum Messbesuch finde. Bislang waren alle Kirchen verschlossen. Ich werfe einen Blick ins Innere: die Bankreihen sind alle gut besetzt. Ein Blick auf das schwarze Brett neben der Eingangstür und ein weiterer Blick auf die Uhr sagt mir, dass es wohl zu spät ist, sich zu den Menschen in der Kirche hinzuzugesellen – die Messe ist bald fertig. Schnell habe ich Rainer wieder eingeholt, der ein wenig vorausgegangen ist. Wir nehmen unser Gespräch wieder auf.
Wir sind nicht wenig überrascht, als plötzlich Gernika in Sicht kommt. Sind wir wirklich schon fast 20 Kilometer gelaufen? Es ist doch noch nicht einmal Mittag. Ich staune darüber, was mein Körper mittlerweile alles mitmacht – zuhause habe ich mir noch nicht vorstellen können, mehr als 15 Kilometer zurückzulegen. Pro Tag, versteht sich. Rainer schiebt sich die Ohrstöpsel rein und verabschiedet sich – er will noch ein wenig allein sein und legt einen Schritt zu.
Ich schaue auf die Stadt, die auf Hitlers Befehl vor über 70 Jahren ihr Leben aushauchte. Wie wird es dort wohl heute aussehen? Die offizielle Wegausschilderung sei anfangs etwas ver- wirrend, lässt mich der Führer wissen. Als ich aber die ersten Häuser der Stadt erreiche, stelle ich fest, dass hier offensichtlich Abhilfe geschaffen wurde – der Weg ist problemlos zu finden. Mein Magen meldet sich. Kein Wunder, es ist ja auch schon nach Zwölf, und ich bin wie fast immer bisher ohne Frühstück gestartet.
Ich halte die Augen offen nach einem Laden, in dem ich Brot und ein wenig Belag sowie etwas Obst erstehen kann. Ich muss feststellen, dass das an einem Sonntag gar nicht so einfach ist. Die meisten Lebensmittelgeschäfte sind geschlossen (ob wegen des Sonntags oder wegen der Siesta, bleibt mir verborgen), lediglich einige Bäckereien sind geöffnet – aber da gibt es außer Brot nichts zu kaufen. Ich habe die Hoffnung schon fast aufgegeben, in Gernika etwas Essbares auftreiben, da komme ich an einem klitzekleinen Lädchen Marke Chinatown vorbei. Hier finde ich das Gewünschte und gehe dann weiter in Richtung Stadtzentrum, um ein geeignetes Plätzchen zum Picknicken zu finden.
Bald habe ich die Foru Plaza erreicht. Der zentrale Platz Gernikas ist an diesem Sonntagmittag überaus belebt – Kinder tollen auf diversen Spielgeräten herum, beäugt von ihren Eltern, die in den Straßencafés die Nase in die Sonne strecken. Genau, Sonne: die lässt sich nämlich seit kurzer Zeit wieder blicken. Ich suche mir eine Parkbank aus, stelle den Rucksack ab, entledige mich meiner Schuhe und mache mich über meine Einkäufe her. Einen Brunnen, um die Wasserflasche aufzufüllen, gibt es auch, wie ich erfreut feststelle. Gelassen registriere ich, dass man mich auch hier mit einigem Interesse beäugt – sind es meine nackten Füße oder die Tatsache, dass ein Pilger auf dem Platz sein Mittagessen einnimmt?
Schließlich packe ich meine Siebensachen zusammen und mache mich auf den Weg aus der Stadt heraus. Es geht eine Treppe hinauf, vorbei an der Kirche, die – natürlich – geschlossen ist, und vorbei am Baskischen Museum. Ich stelle fest: Auch wenn die historische Bausubstanz weitgehend fehlt, ist Gernika durchaus sehenswert. Das sehen wohl auch die zahlreichen Touristen so, die mir entgegenkommen. Einige davon sind aus Deutschland, wie ich anhand der Unterhaltungen feststellen kann.
Der restliche Weg hinaus aus der Stadt ist unspektakulär. Ich verspüre Lust, meinem Mittagessen noch etwas Süßes hinterherzuschicken, und betrete eine Bäckerei. Eine lange Schlange steht vor der Theke. Ich schlendere an den Regalen vorbei, suche mir etwas aus und reihe mich dann in die Schar der Wartenden ein. Da kommt ein weiterer Pilger zur Tür herein. Es ist, wie ich schmunzelnd feststelle, Rainer. Was für ein Zufall, dass er sich genau die gleiche Bäckerei wie ich ausgesucht hat. Oder gibt es auf dem Camino keine Zufälle?
Ich warte ab, bis Rainer seine Einkäufe im Rucksack verstaut hat, dann setzen wir unseren Weg gemeinsam fort. Allerdings nicht lange. Nach gerade mal 500 Metern geht es wieder mal brutal steil den Berg hinauf. Passend dazu zeigt jetzt die Sonne, was sie kann. Ich komme gehörig ins Schwitzen, keuche wie ein Asthmatiker und muss immer wieder stoppen, um wieder zu Atem zu kommen.
Rainer dagegen schnurrt den Hügel hoch, als würde er von einem unsichtbaren Motor gezogen. Anfangs wartet er noch höflich auf mich, doch dann zieht er mit den Worten „Wenn man sich beeilt, hat man es schneller hinter sich“ das Tempo an. Ich traue meinen Augen nicht: Rainer hüpft fast im Laufschritt bergauf und ist ruck-zuck hinter der nächsten Biegung verschwunden.
Als ich nach gefühlt 20 Minuten den schlimmsten Teil des Anstiegs bewältigt habe, wartet dort Rainer gelassen und quietschvergnügt auf mich. „Gib es zu: Du hast mich belogen“, scherze ich. „Du bist kein Mediziner, Du bist Profisportler.“ Rainer lacht. Wir gehen weiter, er erzählt mir von seiner Freundin und deren Werdegang, ich erzähle von der Familie und meinem Job.
Unser Trinkwasser geht zur Neige, wir sind froh, als wir an einem Privathaus eine Wasserstelle finden: Der pilgerfreundliche Hausbesitzer hat eine Holzbohle wie eine Stele an den Zaun montiert, einen Schlauch durch ein Loch gesteckt und einen Zapfhahn montiert. Garniert ist das Ganze stilecht mit einer Pilgermuschel und dem spanischen Wort „Ura“ für Leben.
Bald darauf bin ich dem „Profisportler“ doch wieder zu langsam. Rainer schaltet einen Gang höher und ist schnell außer Sichtweite. Ich setze meinen Weg fort. Die Landschaft ist atemberaubend, ich freue mich riesig über das schöne Wetter und über die saftiggrüne Natur. In einem Waldstück stoße ich auf eine alte, verwunschene Brücke. Mit ihrem uralten Pflaster und den Pflanzen, die sie überwuchern und fast ganz verstecken, sieht sie aus wie aus einer Filmszene von „Der Herr der Ringe“.
Meine Füße machen mir ein wenig Sorgen. Bei den hohen Temperaturen, das Thermometer dürfte sich meiner Schätzung nach wieder an die 30-Grad-Marke herangepirscht haben, stoßen die Five-Fingers auch in Sachen Atmungsaktivität an ihre Grenzen. Ich spüre, dass die Haut an den Fußballen weicher wird, zudem bitzelt es an den Zehen – ein ernstzunehmendes Alarmzeichen, dass sich bald Blasen bilden werden.
Das will ich unbedingt vermeiden, also suche ich mir an einem Waldweg ein Plätzchen, um die unteren Gehwerkzeuge zu inspizieren. Ich ziehe das Leukoplast aus der Tasche und tape großzügig die Fußballen und einige Zehen. Als ich wieder in die Schuhe schlüpfe, merke ich: jetzt ist es deutlich besser.
Einige Kilometer später habe ich Eskerika erreicht. Es handelt sich um eine kleine Ortschaft, eher eine zufällige Ansammlung von Häusern als ein Dorf. An einer Weggabelung geht es nach rechts zur privaten Herberge. Auf den Boden hat jemand (vermutlich der Herbergsbesitzer) ein großes gelbes A – es steht für Albergue – auf den Asphalt gesprüht. Daneben prangt – ebenfalls in gelber Sprühfarbe – die Entfernung zur Herberge: 240 Meter. Komisch, denke ich, in meinem Führer steht, dass es noch fast ein halber Kilometer zu laufen ist.
Ein ganzes Stück weiter finde ich wieder ein gelbes A auf dem Boden, und wieder eine Entfernungsangabe: 240 Meter. Geschickt gemacht: so lockt man Kundschaft an, schmunzele ich. Schließlich stehe ich vor einem imposanten Holzgatter – der Eingang zur Herberge. Ein Zettel in vier Sprachen erläutert gleich noch vor dem Betreten des Grundstücks die Hausord- nung. Unter anderem im es verboten, im Haus barfuß zu gehen. Na toll…
Ich beschäftige mich einige Zeit mit der Türglocke, die nicht so tut, wie sie soll. Irgendwie ist der Mechanismus nach hinten gerutscht – die Glocke gibt keinen Mucks von sich. Trotzdem steht kurz darauf ein kleiner Mann vor mir. Das muss „Pilgerfreund Iñaki“, von dem der Führer berichtet. Er öffnet mir das Gatter und führt mich zum Eingang auf der Rückseite der Herberge. Rainer ist schon da, wie ich sehe: Er hängt gerade mit nacktem Oberkörper seine Wäsche auf. Iñaki schaut nach unten auf meine Schuhe, dann in mein Gesicht. Er sagt nichts, aber sein Blick spricht Bände: Damit ist dieser Verrückte hergekommen? Er zeigt auf ein Schuhregal unter einem Windfang, in dem schon Rainers Stiefel auf Gesellschaft warten.
Ich stelle meine Five-Fingers dazu. Iñaki schaut auf meine nackten Füße und fragt, ob ich noch ein paar Schuhe zum Wechseln dabei habe. Ich nicke und hole die Flip-Flops aus dem Rucksack. Wir betreten einen urigen Essensraum, an dessen Ende eine Theke steht. Auf dem Schild an der Tür dahinter steht „Privat“, dort geht es offenbar zu den Privatgemächern des Herbergsvaters. Ich bekomme den Credential gestempelt, bezahle meine Übernachtungsgebühr von 15 Euro und bekomme dann den Schlafsaal im Obergeschoss gezeigt.
Nach dem Duschen wasche ich meine Sachen und schaue dann draußen nach einem Platz zum Trocknen. Die Sonne brennt zwar vom Himmel, aber die Wäscheleine zwischen einigen Bäumen hängt natürlich im Schatten. Rainer hat deshalb seine Sachen kurzerhand über den Maschendrahtzaun gehängt und liegt nun in der Hängematte. Ich gehe ebenfalls zum Zaun, begleitet von einem kleinen Hund, der mich neugierig beäugt, und werfe die Klamotten über den grünen Draht. Dann aber stelle ich fest, dass der Zaun stellenweise rostig ist. Ich nehme einen Teil der Wäsche wieder herunter und hänge sie doch auf die Leine. Lieber ein wenig feucht als voller Rostflecken, denke ich.
Jetzt eine Cerveza, das wäre ein Segen. Ich schaue nach Iñaki – er sitzt vor dem Haus im Schatten und chillt. Vor der Theke im Aufenthaltsraum bekomme ich mein San Miguel und frage dann, wie es mit dem Menü aussieht, das im Führer erwähnt ist. Wortlos greift Iñaki nach einem Plastikaufsteller und schiebt ihn über die Theke. Es ist eine Preisliste: 1 Tomate 35 Cent, 1 Zwiebel 50 Cent, Spaghetti 1 Euro pro Person usw. Ich verstehe: die Arbeit mit dem Menü macht sich der Herbergsvater nicht mehr, stattdessen lässt er seine Gäste selbst kochen – und verdient sich an den Zutaten noch eine goldene Nase.
Die Küche allerdings sieht verlockend aus: Sie befindet sich im Garten unter freiem Himmel, in einem wohl selbstgebauten Unterstand aus Holz. Ich berichte Rainer von den Neuigkeiten. Wir beschließen, gemeinsam zu kochen. Während wir uns eine weitere Cerveza genehmigen, kraut Rainer den kleinen Hund und ich schreibe eine Liste mit den benötigten Zutaten.
Zur Vorspeise soll es einen gemischten Salat geben mit Zwiebeln und Tomaten (wenigstens Essig und Öl muss man nicht extra bezahlen), danach Spaghetti mit Tomaten-Oliven-Soße, dazu natürlich ein schöner Rioja. Ich bin noch nicht ganz fertig mit der Auflistung, da stehen weitere Pilger vor dem Holzgatter.
Es sind Sibylle und Elke. Als wir uns begrüßt haben, frage ich sie, ob sie mit uns zu Abend essen wollen. Natürlich wollen sie, und ich beginne die Mengenangaben auf der Zutatenliste abzuändern.
Gerade will ich aufstehen und Iñaki die Liste überreichen, da trifft noch ein Rucksack mit Muschel ein. Wieder ist es ein bekanntes Gesicht: Ilona hat es auch bis nach Eskerika geschafft. Moira und Kyle seien in Markina geblieben, berichtet sie. Damit sind wir nun fünf Freunde, die den Abend gemeinsam verbringen werden. Ich gehe mit der abermals korrigierten Zutatenliste zu unserem „Pilgerfreund“, der uns für die Küchenbenutzung gleich noch einmal einen Euro pro Person berechnet. Insgesamt bezahle ich fast 45 Euro – ein stolzer Preis für die paar Sachen, die im Supermarkt wahrscheinlich gerade mal 10 bis 15 Euro gekostet haben.
Eines muss man Iñaki lassen: Die Herberge hat er wirklich toll eingerichtet. Die Wände sind dekoriert mit Fotos vom Camino und vom Guggenheim-Museum in Bilbao, mit einer Karte von Nordspanien und natürlich mit den obligatorischen Muscheln. In einer Vitrine hängt ein Credential – bedeckt mit zahllosen Stempeln. Ich trete näher und stelle interessiert fest, dass der Pilgerausweis dem Herbergsvater gehört. Zwei Mal ist er offenbar schon auf dem Camino unterwegs gewesen. Das ist allerdings schon ein paar Tage her, wie die Fotos rund um den Credential zeigen – auf ihnen sieht Iñaki deutlich jünger aus. Die Datumseinträge unter den Stempeln bestätigen meine Vermutung: 1999 ist dort zu lesen.
Die Mädels schwingen sich unter die Dusche, und Rainer und ich beginnen mit den Kochvorbereitungen. Während ich die Zwiebeln schneide, versucht Rainer die Gaskocher in Gang zu bringen. Dann inspizieren wir die Gewürzauswahl und holen ein paar Töpfe aus dem Schrank. Gewohnt wortkarg taucht plötzlich Iñaki auf und stellt uns zwei kühle Dosen Cerveza hin. Eine nette Geste, nur haben weder Rainer noch ich Lust auf ein weiteres Bier. Also bleiben die Dosen stehen – und fangen in der Abendsonne bald an zu schwitzen.
Auch wir kommen ins Schwitzen, bis endlich die Gaskocher brennen. Schließlich sitzen wir alle am Tisch und lassen uns das Essen schmecken. „Hat jemand Lust auf Musik?“, fragt Rainer und zückt sein Handy. Während ich mich noch frage, wie wir denn ohne Lautsprecher etwas hören sollen, hat Rainer schon aus der Gartenküche ein Trinkglas geholt und stellt das Handy hinein. Eine geniale Idee – gut vernehmbar begleitet nun die Musik unser weiteres Menü.
Als wir die Teller geleert haben und auch die beiden Flaschen Rioja zur Neige gehen, heben wir die Tafel auf. Die Mädels erbarmen sich des dreckigen Geschirrs, Rainer und ich bringen noch die Küche in Ordnung. Es ist spät geworden. Wir machen uns bettfertig. Die beiden vollen Bierdosen stelle ich im Schlafraum auf die Fensterbank und packe dann meinen Rucksack aus.
Wo ist nur meine Zahnbürste? Und die Zahnpasta? Schlagartig fällt mir ein, wo die Sachen abgeblieben sind: Sie liegen im Waschraum des Klosters Zenarruza, links neben dem Waschbecken habe ich sie heute morgen liegengelassen.
Rainer leiht mir seine Zahnpasta, nicht aber seine Zahnbürste. Stattdessen muss nun mein linker Zeigefinger die Reinigungsarbeit übernehmen. Während ich überlege, wo ich auf dem Camino neue Utensilien zum Zähneputzen herbekomme, wird mir klar, dass ich heute morgen den Mund ein wenig zu voll genommen habe. Wie hatte ich zu Ilona gesagt? „Ich vergesse nichts.“
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte