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Leben schreibt man mit „i“

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Tag 10: Von Eskerika nach Pobeña (30 Kilometer)

Beton. So weit das Auge reicht, nur Beton. Scheinbar endlos, zumindest bis zum Horizont, zieht sich die Hauptstraße, an der ich entlanglaufe. Es war mir durchaus klar, dass es auch auf dem Camino del Norte nicht jeden Tag nur am Strand entlanggeht. Aber so eine ätzende Strecke hätte ich nicht gebraucht. Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel, immer wieder sausen Autos an mir vorbei, während ich Meter um Meter auf dem Betonbürgersteig zurücklege. Ab und zu rauscht auch ein Flugzeug über meinen Kopf – und zeigt mir, dass ich der Metropole Bilbao immer näher komme. Wo ist nur die herrliche Landschaft geblieben, durch die ich heute morgen noch laufen durfte?

Ich bin heute früh aufgewacht – gezwungenermaßen. „Frühstück um 7 Uhr“ hatte uns Iñaki gestern Abend noch zugerufen, bevor er die Herberge abschloss, und damit einen Proteststurm der anderen Pilger ausgelöst. Offenbar will er uns schnell loswerden, damit er länger in der Sonne chillen kann, bis die nächsten Übernachtungsgäste vor der Tür stehen, habe ich gedacht. Die anderen Pilger haben ihn dann auf 7.30 Uhr „heruntergehandelt“. Da ich aber ohnehin so früh nichts hinunterbekomme, bin ich noch ein wenig liegengeblieben, als um 6.45 Uhr die anderen Pilger munter geworden sind.

Von Rainer habe ich mir noch einmal ein wenig Zahnpasta für meinen Zeigefinger geschnorrt – und mir vorgenommen, auf jeden Fall heute nach einer neuen Bürste zu schauen. Nach dem Aufstehen ist mir eingefallen, dass ich am Vortag vergessen habe, die Five-Fingers zu waschen – die Treter waren ganz schön dreckig geworden. Das habe ich dann schnell nachgeholt und dabei auch in Kauf genommen, mit feuchten Schuhen loslaufen zu müssen. Angesichts der zu erwartenden hohen Temperaturen sicher zunächst ganz angenehm – ob das aber die Füße auch später noch so sehen?

Dann bin ich mit Sibylle und Elke in den neuen Pilgertag gestartet. Lange sind wir nicht zusammen gelaufen – aber wir haben uns ab und zu wiedergetroffen. Etwa in dem Ort Larrabetzu, den ich nach einem kilometerlangen Abstieg – durch eine grandiose Landschaft hindurch – erreicht habe.

An einer Bar haben Sibylle und Elke ein zweites Frühstück eingenommen. Ich habe mich auf eine Steinmauer gesetzt und erneut meine Füße getaped. Meine Befürchtung, dass die Haut das Gehen in den feuchten Schuhen nicht so genießen könnte, war eingetroffen – die Füße haben ausgesehen, als sei ich gerade aus der Badewanne gestiegen.

Und dann bin ich auf dieser Betonpiste gelandet. Mein Magen meldet sich und sagt mir, ich sollte mich mal nach etwas Essbarem umschauen. Doch ich bin nicht gewillt, diesem Begehren nachzugeben – ich will diese Steinwüste so schnell wie möglich hinter mir lassen. Schließlich habe ich heute noch eine gewaltige Strecke zurückzulegen.

Meine Planung sieht vor, heute Abend in Pobeña zu übernachten. Ich will endlich wieder ans Meer, zudem will ich Bilbao so schnell wie möglich hinter mir lassen. Ich weiß, dass viele andere Pilger einen Tag in der 380.000-Einwohner-Stadt verweilen, um vor allem das weltberühmte Guggenheim-Mu- seum anzuschauen. Da ich mit moderner Kunst so gar nichts am Hut habe, reizt mich ein Besuch überhaupt nicht. Auch der „Das-muss-man-doch-mal-gesehen-haben“-Faktor kann daran nichts ändern.

Von Eskerika bis nach Pobeña zu laufen, würde aber den Rahmen des Möglichen sprengen – das sind mehr als 40 Kilometer. Deshalb habe ich mir vorgenommen, heute einen kleinen Teil des Weges mit der Metro zurückzulegen. Aus dem Internet weiß ich, dass das fast alle Camino-del-Norte-Pilger so machen, um der wenig sehenswerten Industriebrache zwischen Bilbao und Portugalete zu entgehen.

Doch zunächst muss ich noch über den Monte Avril. Der fast 400 Meter hohe Berg vor den „Toren“ Bilbaos hat es sicher in sich – vor allem bei dieser Hitze. Umso wichtiger ist es, angesichts der heutigen Monster-Etappe bald dort anzukommen, um nicht allzu lange der Mittagssonne ausgesetzt zu sein.

Auf der linken Seite entdecke ich eine Apotheke – eine gute Gelegenheit, nach einer neuen Zahnbürste zu schauen. Zudem gehen die Leukoplast-Vorräte so langsam zu Neige. Ich betrete den Laden und mache mich an dem Regal mit den Zahnbürsten mit dem Angebot vertraut. So richtig vom Hocker haut mich das nicht. Auch wenn ich kein Ultralight-Pilger bin, will ich nicht unbedingt eine Bürste in Normalgröße mit mir herumschleppen. Eine Reisezahnbürste, vielleicht zum Zusammenklappen, wäre mir lieber. Gleiches gilt für die Zahnpasta-Tube – was die Größe angeht, zum Zusammenklappen wird es die nicht geben.

Die Apotheke hat aber das Gewünschte nicht im Sortiment. Ich beschließe, in Bilbao danach zu schauen. An der Theke zeige ich der Apothekerin die fast leere Leukoplast-Rolle. Sie wirft mir einen spanischen Wortschwall an den Kopf, von dem ich nur „otra marca“ verstehe. Dann zieht sie eine Schublade auf, wühlt darin herum und zaubert schließlich eine Rolle mit dem gewünschten Klebeband hervor. Für alle Fälle nehme ich noch eine Packung Blasenpflaster für den Fußballen mit – frei nach dem bewährten Motto: Nimm einen Schirm mit, dann regnet es nicht.

Als ich aus der angenehm klimatisierten Apotheke wieder ins Freie trete, merke ich, wie warm es geworden ist. Höchste Eisenbahn, zum Monte Avril zu kommen, sonst schaffe ich es nicht mehr über den Berg. In einer Bar neben der Straße sehe ich Sibylle und Elke sitzen – genießen sie das dritte Frühstück oder das erste Mittagessen? Egal, ich setze meinen Weg fort und erreiche schließlich 1,5 Kilometer hinter Lezama die Abzweigung, an der der Jakobsweg sich von der Hauptstraße entfernt.

Der erste Teil des Weges entschädigt mich ein wenig für die Betonwüste: Es geht durch einen Wald, leider auf Schotter, sonst hätte ich meinen Füße ein wenig Freiheit gegönnt, die in den Five-Fingers immer „lauter“ protestieren. Nach 800 Metern ist die Herrlichkeit aber schon wieder vorbei. Ich unterquere die Autobahn und wende mich dann – den gelben Pfeilen folgend – nach rechts. Vor mir liegt eine Schotterpiste, die neben der Autobahn steil bergauf führt. Da soll ich wirklich rauf?

Es hilft nichts, tapfer setze ich in der mittlerweile sengenden Sonne einen Fuß vor den anderen. Die Sehnsucht nach Strand und Meer wird immer größer. Aber auch diese Hässlichkeit von Weg ist Teil des Camino – so wie auf dem Lebensweg auch nicht immer nur Wiese und Wald zu gehen ist. Life’s not always a beach.

Nach rund einem Kilometer bergauf rufen meine Füße zur Revolution auf. Es piekst und zwickt – akuter Blasenalarm. Ich setze den Rucksack ab, ziehe die Five-Fingers aus und nehme die Füße auf die Hebebühne. Puh, noch keine einzige Blase zu sehen. Das wird aber nicht mehr lange so bleiben, das ist mir klar. Da es der Schotterweg nicht zulässt, barfuß weiterzulaufen, hole ich meine Flip-Flops aus dem Backpack und wechsele das Schuhwerk – nicht ohne zuvor ausgiebig getaped zu haben.

Die Leukoplast-Rolle, die ich von zuhause mitgenommen habe, ist nun endgültig fertig. Ich ziehe die neue Rolle aus der Apotheke heraus und versuche, die Klebestreifen auf den Fußballen zu fixieren. Die Ernüchterung folgt im Wortsinne auf dem Fuß: Das spanische Leukoplast will einfach nicht halten. Was ist das denn für ein Zeug, ärgere ich mich und frage mich, für welchen Zweck man dieses Band verwenden kann, wenn es nicht klebt…

Und weiter geht es den Berg hinauf. Endlich kann ich den Schotterweg und die Autobahn verlassen. Ich drehe mich noch einmal um: tief unten liegt Lezama, zudem kann ich von hier aus den Flughafen von Bilbao gut sehen – gerade setzt wieder ein Flieger zur Landung an. Ob darin auch Pilger sitzen, die von Bilbao aus ihren Jakobsweg beginnen, frage ich mich.

Durch den Wald und später auf einer Piste kämpfe ich mich immer weiter in Richtung Gipfel. Schließlich – ich bin mitt- lerweile ziemlich erledigt – bin ich oben angekommen. Das Dumme ist nur: ich sehe keine Pfeile mehr. Der Führer ist mir an dieser Stelle wahrlich keine Hilfe – zu verwirrend sind die Angaben. Mir wird klar: ich habe mich wieder mal verlaufen. Irgendwo muss ich einen Pfeil oder ein Hinweisschild übersehen haben. Was tun? Natürlich könnte ich einfach grob die Richtung einschlagen und würde so mit Sicherheit auch Bilbao erreichen – die Stadt ist schließlich groß genug. Allerdings steht mir nicht gerade der Sinn danach, ohne Ortskenntnis durch den Asphaltdschungel dieser baskischen Metropole zu irren. Also lieber hier oben auf dem Gipfel des Monte Avril den richtigen Weg suchen.

Ich gehe auf gut Glück nach links und stehe bald an einer Weggabelung. Hier gibt es tatsächlich mehrere Wegweiser – leider ist keiner vom Jakobsweg dabei. Von links nähert sich ein Wanderer – ein älterer Herr, der in kurzen Hosen und mit nacktem Oberkörper stramm dahergelaufen kommt. Ich kratze in meinem Hirn ein paar spanische Vokabeln zusammen und spreche ihn an. Der Mann bleibt stehen, funkelt mich mit einem durchdringenden Blick an – und überschüttet mich dann mit einem Wortschwall. Leider auf Baskisch. Ich verstehe nur Bahnhof. Als der Mann meine verständnislose Miene bemerkt, hebt er die Stimme, bis er mich fast anschreit. Dann winkt er resigniert ab, lässt mich stehen und geht weiter.

Ich bleibe nicht lange allein, denn schon kommt der nächste ältere Herr vorbei – in einem ähnlichen Outfit: kurze Hosen, nackter Oberkörper, einen Stock in der Hand. Ist denn heute Wandertag? Ich fordere zum zweiten Mal mein Glück heraus und spreche ihn an. Glücklicherweise antwortet er mir auf Spanisch. Allerdings verstehe ich nicht viel mehr als zuvor. Offenbar will er mir sagen, dass auf dem Monte Avril alle Wege nach Rom Bilbao führen und es ziemlich egal ist, wo ich mich an den Abstieg mache. Ich entgegne, dass ich den Jakobsweg suche. Da lächelt er, tippt mir auf die Schulter und winkt mir, ihm zu folgen.

Dankbar trotte ich neben meinem Engel her. Nach einer Biegung kann ich das erste Mal einen Blick auf Bilbao erhaschen. Der Führer hat es gut beschrieben: die Metropole ist regelrecht eingezwängt von den Bergen, die sich ringsum die Stadt erheben. Ich bin riesig erleichtert, als ich bald darauf einen „Done Jakue Bidea“-Wegweiser entdecke. Ich bin wieder auf dem richtigen Weg. Ich bedanke mich bei dem Spanier und gehe weiter.

Steil bergab nähere ich mich immer weiter dem Stadtrand. Auf einer Fußgängerbrücke, die über eine Schnellstraße führt, stoppe ich – und genieße einen Augenblick den wirklich atem- beraubenden Blick über die Dächer Bilbaos. Ich sehe die Kathedrale, die dem Hl. Jakobus geweiht ist, und an einer Biegung des Flusses Nervión das berühmte Guggenheim-Museum mit seiner futuristischen Gebäudeform.

Durch die ersten Häuserschluchten des Stadtteils Begoña erreiche ich die gleichnamige Basilika, die majestätisch ihre Türme gen Himmel reckt. Das Gotteshaus ist zur Abwechslung mal geschlossen. Gibt es in Spanien eigentlich irgendeine Kirche, die man auch mal betreten kann? Mir schwant, dass mich an der Santiago-Kathedrale das gleiche Schicksal ereilen wird.

Ich komme an einem Eroski-Supermarkt vorbei. Ich könnte hier nach einer Zahnbürste schauen und gleich noch etwas zum Mittagessen erstehen. Doch ich habe keine Lust, in diesem Konsumtempel durch endlose Regale zu irren – und dabei endlos viel Zeit zu verlieren. Lieber schaue ich in der Innenstadt nach einer Alimentation und einer Apotheke.

Bald darauf erreiche ich eine monströse Treppenanlage. Das muss der „malerische Fußweg Calzadas de Mallona“ sein, der im Führer erwähnt ist. Über gefühlt 800 Treppenstufen geht es immer weiter hinunter, bis ich zunächst die Fußgängerzone erreicht habe. Mein Magen knurrt vernehmlich – eine Alimentation ist aber weit und breit nicht zu sehen. Vielleicht war es doch keine gute Idee, den Supermarkt am Stadteingang rechts liegen zu lassen. Ich betrete eine Bäckerei. Ein richtiger Nobelschuppen, edel eingerichtet – und mit entsprechender Kundschaft. Zwischen all den gut gekleideten, schmuckbehängten Stadtdamen fühle ich mich wie ein Außerirdischer.

Die Preise auf den Schiefertafeln an der Wand passen so gar nicht zu dem luxuriösen Ambiente – sie sind nämlich durchaus moderat. Lange stehe ich vor der Auslage und überlege – ich kann mich einfach nicht entscheiden. Soll ich eines der knusprigen Baguettes nehmen oder doch lieber ein verlockend aussehendes Teilchen? Eigentlich steht mir zur Mittagszeit der Sinn nach etwas Deftigem, aber wenn ich keine Alimentation finde, muss ich das Baguette ohne Belag verputzen. Als mich der Angestellte hinter dem Tresen – ein junger Mann, der vom Outfit her auch gut in eine Szenekneipe gepasst hätte – zum dritten Mal fragend anschaut, gebe ich mir einen Ruck.

Ich entscheide mich für ein Vollkornbaguette, lasse es mir längs aufschneiden und verlasse die Bäckerei. Kurz darauf komme ich an einer Apotheke vorbei. Zwar habe ich mittlerweile Hunger wie ein Wolf, will aber noch das Zahnbürsten-Thema abhaken, bevor auch die Apotheker-Zunft in der Siesta versinkt. Ich betrete den Verkaufsraum, finde das Zahnbürstenregal – und bin ebenso überrascht wie ernüchtert: Es gibt hier exakt die gleiche Auswahl wie in der Apotheke in Lezama. Ich beschließe, mein Glück ein drittes Mal zu versuchen – am besten am Nachmittag in Portugalete. Wenigstens bekomme ich in der Apotheke eine weitere Rolle Leukoplast – diesmal die richtige marca. Hoffentlich klebt das besser.

Schließlich stehe ich vor der Kathedrale. Die Portale sind verschlossen. Vor einem Brunnen stehen einige Bänke – ein guter Platz für das Mittagessen. Allerdings habe ich außer dem Baguette noch nichts anderes gekauft – irgendwo muss doch auch in der Innenstadt ein Laden sein. Wo kaufen denn die Spanier ihre Sachen ein?

Ich verlasse den Platz an der Kathedrale wieder und gehe auf gut Glück in eine der vielen Seitenstraßen. Verrückt, was ich heute schon für eine Zeit verplempert habe. Umso größer ist meine Freude, als ich auf der linken Seite endlich einen kleinen Lebensmittelladen entdecke. Und er ist sogar geöffnet! Es handelt sich erneut um einen kruscheligen, drückend warmen Schlauch Marke Chinatown. Egal, ich greife mir ein paar Sachen, bezahle bei der freundlichen Asiatin an der Kasse und gehe zurück zur Kathedrale.

Auf einer der Bänke packe ich meine Herrlichkeiten aus und beginne zu vespern. Wieder könnte der Kontrast nicht größer sein: Direkt vor mir sitzen zahlreiche Touristen in einem Straßencafé. Kellner in schwarzen Kitteln wuseln zwischen ihnen umher, servieren Cappuccino und Bocadillos. Einige ostdeutsche Sprachfetzen dringen an mein Ohr und mischen sich mit dem spanischen Wörterwirrwarr und dem Geklapper des Geschirrs. Ich dagegen sitze mit wild verklebten nackten Füßen auf der Bank und krümele mit meinem Baguette herum…

Als der Magen voll und die Tüte leer ist, fülle ich meine Wasserflasche am Brunnen auf und mache mich wieder auf den Weg. Die Stadt geht mir ein wenig auf die Nerven; ich habe keine Lust mehr, zwischen all den Touristen über das Pflaster zu ir- ren. Das nahe Meer zieht mich an wie ein Magnet – ich will raus aus Bilbao. Wo ist nur die Metro? Weit und breit ist kein Schild zu sehen – auch nicht am Arriaga-Theater, vor dem sich gleich mehrere Bus- und Straßenbahn-Haltestellen tummeln.

Ich gehe zu einer der Straßenbahnhaltestellen und nehme den Fahrplan in Augenschein. Fehlanzeige, so komme ich nicht nach Portugalete. An der nächsten Bushaltestelle dasselbe Spiel. Schließlich frage ich eine Frau nach dem Weg. Sie zeigt in östliche Richtung: hinter der Kirche dort sei die Metro-Station. Ich tapere los, gleich darauf aber beschleichen mich erste Zweifel: Bin ich wirklich auf dem richtigen Weg? Mangels Alternativen behalte ich aber die Richtung bei – und muss hinter besagter Kirche schmunzeln: Die Metro-Station ist in einen Berg hinein- gebaut. Und ich habe die ganze Zeit nach einem Treppenabgang à la Paris oder London gesucht.

In der Metro-Station checke ich wieder den Fahrplan. Dank des Pilgerforums weiß ich, dass ich nicht in Richtung Portugalete fahren darf, sonst lande ich auf der falschen Flussseite und kann dann nicht mit der berühmten Hängebrücke übersetzen. Schnell finde ich die richtige Linie in Richtung Getxo und stelle mich am Fahrkartenautomaten an.

Vor mir steht ein Pilgerpärchen. Wie ich am gelben Führer in der Hand des jungen Mannes erkenne, sind sie ebenfalls Deutsche. Wir kommen ins Gespräch; die beiden erzählen, dass sie am Vortag von Lezama in Richtung Bilbao gelaufen sind – weil sie die Asphaltstrecke so ermüdet hatte, waren sie mit dem Bus in die Stadt hineingefahren. Heute wollen sie wieder nach Lezama zurück, um den versäumten Weg nachzuholen. Respekt, denke ich, das ist wirklich konsequent.

Als ich die Fahrkarte gelöst habe, versuche ich anhand der Anzeigentafel den richtigen Bahnsteig zu finden. Das ist gar nicht so einfach, denn die Angaben sind ein wenig kryptisch. Schließlich stehe ich richtig, und kurz darauf fährt auch schon die Metro ein. Als die Bahn anrollt, beschleicht mich der Gedanke, ob es nicht doch „ehrlicher“ gewesen wäre, den Weg durch die Industriebrache am Ufer des Nervión zu Fuß zu bewältigen. Als nach ein paar Stationen die Metro aus dem Untergrund auftaucht und so zur S-Bahn wird, kann ich einen Blick auf die Werftruinen erhaschen. Wirklich ein trostloser Anblick; ich glaube, ich habe mich richtig entschieden.

Ich bin ziemlich müde, der Tag hat mich ganz schön geschlaucht: die Asphaltpiste, das Monte-Avril-Abenteuer, die touristenüberfüllte Stadt – ich ziehe ernsthaft in Erwägung, vielleicht doch in Portugalete zu übernachten. Allerdings würde ich dann heute das Meer nicht mehr zu Gesicht bekommen – das wäre ein herber Verlust. Ich beschließe, die Entscheidung noch ein wenig aufzuschieben.

Ratternd fährt der Zug in den Bahnhof von Getxo ein. Ich steige aus und versuche mich zu orientieren. Schließlich gibt es hier keine gelben Pfeile, ich befinde mich ja auch nicht auf dem Jakobsweg. Ich laufe los und frage kurz darauf sicherheitshalber ein junges Mädchen, ob das auch der Weg zur Biskaia-Brücke ist. Sie nickt. Zehn Minuten später habe ich das Ufer des Nervión erreicht. Die Industriebrache ist in der Ferne nur noch zu erahnen, hier an der Strandpromenade sieht alles wie geleckt aus. Kein Wunder, ist doch die berühmte Hängebrücke, das Wahrzeichen der Stadt, nur noch ein paar Schritte entfernt.

Im Internet habe ich zuhause schon einige Bilder von der Brücke gesehen. Auch in meinem Führer findet sich ein Foto des Stahlungetüms, das Ende des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Aber als ich nun leibhaftig davor stehe, verschlägt es mir doch die Sprache. Ein gigantisches Stahlgeflecht überspannt in 50 Metern Höhe den Fluss. An Seilen hängt eine Plattform, die ohne Pause Autos und Fußgänger auf die andere Seite bringt. Ich schieße einige Fotos – und habe Mühe, die Brücke vollständig in den Sucher zu bekommen.

Laut Führer gibt es die Möglichkeit, mit dem Aufzug auf 50 Meter Höhe hinaufzufahren und dann zu Fuß auf die andere Seite zu gelangen. Der Spaß kostet allerdings 7 Euro, die Fahrt auf der Plattform ist dagegen bereits für 70 Cent zu haben. Ich entscheide mich für die günstigere Variante und löse am Automaten ein Ticket. Gleich fährt die Plattform auf meiner Seite ab, aber ich habe es nicht eilig. Stattdessen betrete ich eine Art Aussichtspunkt, um noch ein paar Fotos zu machen.

Bald darauf stehe ich auf der Plattform. Mit einem Ruck setzt sich das Ungetüm in Bewegung. Fasziniert stelle ich fest, dass die ganze Brücke von einigen monsterdicken Stahltrossen stabilisiert wird, die irgendwo zwischen den Häusern am Ufer befestigt sind – wo genau, ist aber nicht zu sehen. Die Überfahrt dauert nicht lange, kurze Zeit später dockt die Plattform mit einem krachenden Geräusch am anderen Ufer an.

Ich schaue in den Führer, welche Straße mich jetzt wieder auf den Jakobsweg bringt, und denke weiter darüber nach, hier in Portugalete die heutige Etappe zu beenden. Allerdings gibt es hier keine Herberge, sondern nur Pensionen – und da werde ich wohl keine Pilgergesellschaft haben.

Kurz darauf – als es wieder bergauf geht – habe ich plötzlich das Gefühl, ich bin im Kaufhaus: vor mir ist eine Rolltreppe. Mitten im Bürgersteig. So etwas habe ich schonmal am Frankfurter Flughafen gesehen, aber noch nicht in freier Wildbahn. Was für ein Luxus. Ich mache einen Schritt nach vorne, und schon trägt mich das Band sanft nach oben. Ein Blick nach vorne sagt mir, dass ich wohl den Hügel nicht selbst hinaufzulaufen brauche, denn an die erste Rolltreppe schließen sich einige weitere an.

Als ich mich umdrehe, sehe ich direkt hinter mir eine junge Frau, mit einem großen Rucksack auf dem Rücken und einem Buch in der Hand. Das sieht verdächtig nach Pilger aus – und wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, es ist eine Deutsche. Am Ende der nächsten Rolltreppe warte ich einen Augenblick, bis die junge Frau mich erreicht hat, und spreche sie an. Anne ist tatsächlich aus Deutschland. Dass sie aus dem Schwabenland kommt, muss sie mir gar nicht verraten, das verrät der akustische Personalausweis.

Wir betreten gemeinsam die nächste Rolltreppe, und Anne greift nach der Wasserflasche an der Seite ihres Rucksacks. Als sie das Behältnis herausholt, rutscht ihr die Flasche aus der Hand, fliegt im hohen Bogen über den Handlauf und kullert langsam den Berg hinunter. Mit einem Schrei hechtet Anne – mit Rucksack, wohlgemerkt – seitwärts über die Reling, springt auf die Straße und rettet ihr Trinkgefäß. Dann joggt sie den Berg hinauf und steht gleich darauf mit einem Grinsen wieder neben mir.

Bei der Kondition hätte sie die Rolltreppe wahrlich nicht gebraucht, denke ich. Allerdings ist Anne auch noch ausgeruht – sie hat ihren Camino erst heute in Bilbao begonnen, ist gegen Mittag am Flughafen gelandet. Gegen Mittag – vielleicht saß sie in genau dem Flieger, den ich vor einigen Stunden beim Aufstieg zum Monte Avril gesehen habe…

Anne hat nicht die Metro genommen, sondern ist die ganze Strecke durch die Industriebrache bis Portugalete gelaufen, erzählt sie. Heute will sie noch bis Pobeña. Ich bin ziemlich erledigt von dem bisherigen 20-Kilometer-Marsch in teilweise sengender Hitze, dann aber muss ich daran denken, wie ich am Vortag mit Rainer zusammen gelaufen bin. Beim Erzählen verging die Zeit wie im Flug – das macht mir Mut, gemeinsam mit Anne die letzten zehn Kilometer anzugehen.

Wir bleiben immer wieder stehen, um den richtigen Weg aus der Stadt heraus zu finden. Anne hat den gleichen Führer wie ich – den gelben. Ihr Exemplar ist aber deutlich dünner als meins. „Ich habe die Seiten rausgerissen, die ich nicht brauche“, grinst sie und hält mir ihr reichlich zerrupftes Buch vor die Nase. Mir widerstrebt es, ein Buch so zu behandeln, allerdings spart sie natürlich so Gewicht – auch wenn sie die Zahnbürste nicht abgesägt hat.

Apropos Zahnbürste. Ich wollte doch noch… Aber daran ist im Moment nicht zu denken, schließlich will ich Anne nicht zumuten, zehn Minuten vor einer Apotheke auf einen wildfremden Pilger zu warten. Also verschiebe ich die Anschaffung des neuen Putzwerkzeuges noch einmal – vielleicht gibt es ja in Pobeña noch eine Möglichkeit…

Wir überqueren das Autobahnkreuz und landen auf einer kuriosen Piste: einem kombinierten Rad- und Fußweg, der sich in weiten Kurven durch die Landschaft windet. Der Radweg ist zweispurig angelegt – und das ist auch gut so: Die Radler brezeln nämlich mit beachtlichem Tempo aneinander und an uns vorbei.

Anne legt ein ebenso beachtliches Tempo vor, das für mich grenzwertig ist. Schließlich will ich am Ende dieser Monsteretappe nicht meine Gehwerkzeuge ruinieren, die mich noch ein paar hundert Kilometer weit tragen sollen. Bald darauf erfahre ich, warum Anne so gut zu Fuß ist: Sie arbeitet bei den Verkehrsbetrieben einer schwäbischen Großstadt – und muss dort alle drei Monate mit einigen Kollegen das komplette Straßenbahnnetz ablaufen, um Schäden an den Gleisen zu dokumentieren. Da sind die 20 Kilometer von Bilbao nach Pobeña natürlich ein Klacks…

Mein Plan geht auf: wir unterhalten uns nett und merken gar nicht, wie schnell wir uns unserem Ziel nähern. Sie sagt, dass sie auch sehr gerne barfuß läuft und im Büro meistens keine Schuhe anhat, auf den Gleisen aber natürlich Sicherheitsschuhe tragen muss. Ich erzähle von meinem Job und meiner Familie, sie berichtet, dass sie eigentlich mit ihrem Freund in den Urlaub fahren wollte. Dann aber sei die Beziehung in die Brüche gegangen, und sie habe sich entschieden, den Jakobsweg zu laufen.

Mir imponiert die Art, wie Anne den Jakobsweg angeht: Sie hat so gut wie keine Pläne gemacht, hat keine Etappen ausgeklügelt, will nur in Santiago ankommen. Eine einzige Sache habe sie sich vorgenommen, meint sie und durchwühlt ihren Führer nach einem kleinen Lesezeichen. Schließlich findet sie die gewünschte Seite: nach Güemes will sie auf jeden Fall – zu diesem charismatischen Pater. Ich frage mich, ob ich den Camino auch so unvorbereitet, einfach ins Blaue hinein gehen könnte…

Nach der gefühlt 22. Wegbiegung kommt endlich wieder das Meer in Sicht, das ich tagelang nicht gesehen habe. Noch zwei Kilometer geht es auf der Piste weiter, dann erreichen wir La Arena. Der Führer empfiehlt uns, das letzte Stück bis Pobeña am Strand entlangzulaufen. Das lassen wir uns natürlich nicht zweimal sagen. Ich schlüpfe aus den Flip-Flops und befestige sie mit einem Karabinerhaken am Bauchgurt des Rucksacks. Dann warte ich, bis Anne sich ihrer Schuhe und Socken entledigt hat.

Weil die Etappe sich dem Ende entgegenneigt, können wir nun auch die Füße ins Wasser strecken. Ich bemerke, dass Anne eine Tätowierung auf dem Fuß trägt, kann sie aber nicht lesen. Darauf angesprochen, sagt sie mir, dass sie sich einen ihrer Lieblingssprüche auf den Fuß hat schreiben lassen. „Leben schreibt man mit i.“ Ich lasse mir diesen feinsinnigen Satz ein wenig durch den Kopf gehen. Dann überqueren wir die Fußgängerbrücke und erreichen den Ortsrand von Pobeña.

Die Herberge müsste irgendwo dahinten sein, denke ich und recke den Hals. Da entdecke ich plötzlich ein bekanntes Gesicht: es ist Gabriela. Mit ihrem Rucksack steht sie mitten auf dem Parkplatz und ruft uns ein einziges Wort entgegen: „Completo“.

Ich kann es nicht fassen: die Herberge ist voll. Da laufe ich tagelang mit der letztlich unbegründeten Angst, kein Bett mehr abzubekommen, und als ich mal einen Tag nicht daran denke, sind alle Betten belegt. Kein Wunder, schließlich ist es schon ziemlich spät, wie ich mit einem Blick auf die Uhr feststelle.

In der Herberge habe man ihr geraten, die umliegenden Hotels und Pensionen abzuklappern und ein freies Bett zu suchen. Doch die anderen Schlafstätten seien auch schon alle belegt, berichtet Gabriela. Offenbar haben schon eine ganze Menge andere Pilger dieselbe Empfehlung bekommen. Warum ist der Camino heute nur so voll?

Einfach weiterzulaufen, ist für uns keine Option – bis Castro-Urdiales sind es 15 Kilometer. Wir beschließen, zur Herberge zu gehen und nach einer anderen Schlafmöglichkeit zu fragen. Vielleicht erbarmt sich ja jemand und bietet uns ein privates Bett an, schießt mir durch den Kopf. Vor der Herberge stehen mehrere Hospitaleros und Hospitaleras – und sehen genauso ratlos aus wie wir. Schließlich fragt uns einer der Männer, ob wir auf dem Fußboden des Speisesaals schlafen wollen. Wir strahlen und nicken dankbar.

Einige Zeit später breiten wir – frisch geduscht – unsere Schlafsäcke auf dem Fußboden aus. Sogar Isomatten hat man für uns. Dann beschließen wir, gemeinsam auf die Jagd nach etwas Essbarem zu gehen. In der Herberge habe ich den Namen einer Bar gelesen, die Pilgermenüs anbietet. In einer Seitenstraße finden wir schließlich das Restaurant und nehmen vor der Tür an einer Plastiktisch-Garnitur Platz. Ob wohl hier eine Bedienung kommt?

Pustekuchen, also stehe ich auf, schlendere an den Tresen und bestelle erstmal drei große Cerveza. Mit grimmiger Miene stellt mir der Wirt die Gläser hin und bedeutet mir, dass das Betreten des Restaurants ohne Schuhe verboten sei. Ich entschuldige mich und frage nach dem Pilgermenü. Das gebe es nur drinnen, antwortet er mir.

Wir genehmigen uns das Bier an der frischen Luft und gehen dann nach drinnen, um einen Tisch zu entern. Der Wirt führt hier ein strenges Regiment, denke ich, als er uns klarmacht, dass wir nicht zu dritt an einem Tisch mit vier Stühlen sitzen dürfen. Wir bekommen einen Tisch an der Wand und studieren die Speisekarte. Wieder verstehe ich nur Bahnhof. Wir lassen uns von ein paar Pilgern am Nebentisch beraten („nehmt bloß nicht den Fisch, der ist schrecklich“) und ordern dann den ersten Gang. Nach nicht mal drei Minuten haben wir das Gewünschte vor uns stehen. Anne bekommt eine riesige Terrine mit Linsensuppe, Gabriela und ich einen Teller mit kaltem Nudelsalat.

Als wir unseren Salat leer haben, helfe ich Anne noch ein wenig mit der Suppe. Der Hauptgang ist auch schnell verputzt, und schon steht der Wirt wieder am Tisch und fragt, was wir zum Nachtisch wollen. Wir entscheiden uns für ein Eis – und trauen kurz darauf unseren Augen nicht: Quasi im Vorbeigehen wirft uns der Wirt drei eingewickelte Eistüten auf den Tisch, die er wohl im 20er-Pack im Kühlregal des Supermarktes gefunden hat. Drei Gänge für 9 Euro, da darf man die Ansprüche nicht zu hoch schrauben…

Egal, wir lassen uns die Laune nicht verderben, leeren schließlich mit vereinten Kräften unsere Flasche Vino tinto und machen uns auf dem Rückweg zur Herberge. Im Speisesaal ist noch Betrieb, ich brühe mir einen Tee auf und setze mich an einen der kleinen Tische, während Gabriela und Anne sich schon schlafsackfertig machen. Neben mir sitzen zwei Japaner: Ken und Mizuho sind gerade auf einer 18-monatigen Weltreise. Sie sind in Asien gestartet, waren in Thailand, Sri Lanka und Kambodscha – und absolvieren nun den Camino del Norte. Danach stehen einige Städte in Europa auf dem Programm, bevor es nach Nord- und Südamerika und schließlich nach Hawaii geht.

Um 22 Uhr wird die Unterhaltung abrupt beendet: Ein Hospitalero scheucht die letzten Pilger in Richtung Schlafsaal und drückt dann auf den Lichtschalter. Unversehens finde ich mich im Dunkeln wieder – immer noch ohne Zahnbürste, wir mir schlagartig einfällt. Aber wenigstens habe ich einen Platz zum Schlafen…

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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