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Ausflug ins Mittelalter

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Tag 8: Von Arnope nach Zenarruza (27 Kilometer)

Ich habe es wieder mal geschafft: Ich bin allein. Ob die Pilger im Mittelalter wohl auch so lange liegen geblieben sind wie ich? Alle Betten um mich herum sind leer. Die Weißrussen haben ihre Waldarbeiten beendet und sind wohl schon wieder im Sattel. Ich schaue auf die Uhr: Schon nach 8. Ich klettere aus dem Bett und packe in aller Ruhe meine Sachen. Draußen ist es nass, offenbar hat es in der Nacht ein wenig geregnet.

Zu meiner Überraschung ist die Wäsche auf dem Ständer doch weitgehend trocken, nur das T-Shirt ist noch feucht. Mit der Wahl dieses Kleidungsstückes habe ich einen Fehler gemacht: Der Stoff ist einfach zu schwer – kein Wunder, wenn man Outdoor-Klamotten für 5 Euro auf der Resterampe ersteht. Bei nächsten Mal wird Qualität gekauft, denke ich, und hänge das T-Shirt an den Rucksack.

Ich gehe in die Bar, um mich zu verabschieden. Leider ist von den beiden Damen, mit denen ich gestern so nett geplaudert habe, weit und breit nichts zu sehen. Ich hätte ihnen gerne noch einmal gesagt, wie wohl ich mich bei ihnen gefühlt habe. So bekommt nun der Ehemann hinter dem Tresen meine Dankesworte ab. Ich schieße noch ein paar Fotos und gehe dann wieder on the road.

Es geht durch den Wald. Der Weg schlängelt sich idyllisch zwischen den Bäumen hindurch, ist aber ziemlich rutschig. Immer wieder muss ich aufpassen, nicht auszurutschen. Ich komme nur langsam voran, was mich aber nicht stört. Ich habe ja Zeit, auch wenn die Etappe heute die bislang längste meines Camino werden wird. Bei meiner vorläufigen Etappenplanung zuhause hatte ich mir überlegt, am Samstag Abend im Kloster in Zenarruza anzukommen, um dann am Sonntag bei den Mönchen in die Messe zu gehen. Dazu hatte ich mir für den Samstag eine kurze Etappe von nur sieben Kilometern – von Markina-Xemein bis Zenarruza – auferlegt. Eine Etappe zum Ausruhen sozusagen.

Durch meine Zwangspause in San Sebastian bin ich jetzt gegenüber meiner Planung einen Tag im Hintertreffen. Zwar ist das, was ich mir zuhause überlegt und aufgeschrieben hatte, nicht in Stein gemeißelt – ich will ja alles so nehmen, wie es kommt. Aber der Gedanke, in einer prächtigen mittelalterlichen Kirche dem Chorgebet der Mönche zu lauschen, ist zu verlockend. Deshalb beschließe ich, die Übernachtung in Markina ausfallen zu lassen, auch wenn ich dann nicht im dortigen Karmeliterkloster absteigen werde. Damit habe ich heute 27 Kilometer Weg vor der Brust bzw. vor den Füßen – ein ziemliches Brett. Ich bin gespannt, wie ich das wegstecken werde.

Von hinten nähern sich einige Pilger. Es sind fünf Franzosen, die alle an ihrem Rucksack einen Wimpel flattern haben. Sie gehören einer bretonischen Jakobspilger-Vereinigung an, lese ich. Wo sie wohl zuhause sind? In der Bretagne war ich ja auch schon ein paarmal, also frage ich, woher sie kommen. Aus der Nähe von Brest, erfahre ich.

Und wo haben sie ihren Camino gestartet, frage ich weiter. In der Nähe von Brest, sagt einer der Franzosen. Ich kratze mich verwirrt am Kopf – mein Französisch ist wirklich nicht das Beste. Wahrscheinlich habe ich in meinem Hirn wieder in den falschen Vokabelkasten gegriffen. Ich wiederhole meine Frage, doch der Franzose bekräftigt: Sie haben ihren Camino in der Nähe von Brest begonnen. Ich bin schwer beeindruckt: Die fünf Pilger sind bis heute schon 1200 Kilometer gelaufen, seit mehr als acht Wochen sind sie schon unterwegs.

Kaum sind die Franzosen um die nächste Wegbiegung verschwunden, treffe ich neue Pilger. Der Camino ist heute ein regelrechter Taubenschlag, verglichen mit der Einsamkeit der vergangenen Tage. Ich wechsele ein paar Worte mit einem Franzosen aus Angers und einer Australierin, die in Melbourne wohnt. Die beiden laufen zusammen und setzen ihren Weg auch gemeinsam fort. Ich genieße wieder ein wenig die Ruhe, die der Wald ausstrahlt. Lange bleibe ich aber nicht alleine. Von hinten nähern sich bekannte Gesichter: es sind Arne, der Polizist, und Rainer.

Ich mag die beiden sehr, also lege ich einen Zahn zu, um mit ihnen ein Stück zu gehen und ein wenig zu plaudern. Arne erzählt, er habe sich relativ kurzfristig entschieden, den Camino del Norte zu gehen. Zunächst habe er erwogen, mit dem Fahrrad auf dem Olavsweg in Norwegen unterwegs zu sein. „Aber dann hätte ich eine Waffe mitnehmen müssen – wegen der vielen Bären“, grinst er. Auch Rainer hat sich ziemlich spontan entschieden, zum Pilger zu werden: Erst einige Tage vor der Abreise hat er seinen Flug gebucht. Er ist ebenfalls von Frankfurt-Hahn aus gestartet, allerdings drei Tage nach mir.

Weil sein Flugzeug schon am frühen Morgen abhob, ist Rainer am Vortag mit dem Zug aus dem Frankenland bis nach Mainz gefahren. Am dortigen Hauptbahnhof musste er einige Stunden warten, bis der Zubringerbus zum Hahn losfuhr. Ich könne mir Schöneres vorstellen, als die Nacht am Mainzer Hauptbahnhof zu verbringen, sage ich. Rainer zuckt mit den Schultern. Er ist ebenfalls hart im Nehmen, merke ich.

Wir lachen viel auf dem Weg. Rainer erzählt, wie er auf die Idee kam, Medizin zu studieren: „Ich hatte ein ganz gutes Abi, da habe ich mir gedacht: Golfspielen, Porschefahren – cool, werde ich Arzt.“

Kilometerweit geht es bergauf durch den Wald. Auf mehr als 400 Metern Höhe angekommen, haben wir zwei Möglichkeiten weiterzugehen. Wir entscheiden uns für die Variante, die laut Führer „länger, aber schöner“ ist. Wir reden über Vegetarismus (Rainer isst auch kein Fleisch), sein Studium, die Familie. Die Zeit vergeht wie im Flug, und bald haben wir die ersten Häuser von Markina-Xemein erreicht. Sind wir wirklich schon 20 Kilometer gelaufen? Ich kann es kaum glauben, aber es ist so.

Wir kommen an einer Kirche vorbei. Ich bin etwas im Zwiespalt: Ich will gerne noch mit Rainer weitergehen, aber auch einen Blick in die Kirche werfen. Immerhin steht die Tür offen – endlich mal. Ich entscheide mich für die Kirche – und bin restlos geplättet, als ich einen Blick in das Gotteshaus werfe. Rund um den Altar stehen bzw. liegen riesige Felsblöcke – die Kirche ist quasi um die Felsen drumherumgebaut.

Ich habe zuhause schon einige Bilder von der Kirche San Miguel de Aretxinaga gesehen und auch in meinen Führer darüber gelesen – und jetzt wäre ich fast achtlos daran vorbeigerannt. Auch Rainer ist beeindruckt; wir zücken unsere Fotoapparate und versuchen, die gigantische Szenerie irgendwie komplett in den Sucher zu kriegen. Das ist aber unmöglich, die Felsbrocken sind bestimmt fünf Meter hoch und ebenso breit.

Ich laufe eine Runde um den Altar, mache ein Foto nach dem anderen. Der Altar stammt aus dem Hochmittelalter, habe ich im Führer gelesen. Wer um alles in der Welt ist nur auf die verrückte Idee gekommen, eine Kirche drumrum zu stellen? Als wir genug gesehen haben, gehen Rainer und ich weiter und erreichen nach einiger Zeit das Stadtzentrum. Hier trennen sich dann doch unsere Wege – Rainer will in eine Bar, ich ziehe es vor, mich in einer Alimentation zu versorgen und dann unter freiem Himmel zu essen.

Ich werfe am Marktplatz noch einen Blick in die Kirche der Stadt und stehe dann vor einem großen Brunnen. Aus vier Armen schießt das Wasser heraus. Meine Trinkflasche ist leer, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wasser zapfen kann. Ich betrete einen kleinen Laden in einer Seitenstraße, erstehe mein mittlerweile traditionelles Menü aus Brot, Obst, Schokolade und Keksen und frage dann den Ladeninhaber, ob er meine Trinkflasche auffüllen würde. Wortlos kommt der Mann hinter dem Tresen hervor, nimmt mich am Arm, führt mich aus dem Laden heraus und zeigt dann auf den Brunnen am Marktplatz.

Ich bedanke mich und gehe wieder zurück zu den Wasserfontänen. Offenbar waren meine Zweifel von vorhin unangebracht. Ich fülle die Flasche und gehe ein paar Meter weiter zu einem kleinen Park. Es ist Mittagszeit, und ich wundere mich mal wieder über den Trubel um mich herum. In den Straßencafés sitzen zahlreiche Menschen, auch einige Mütter und Väter mit Kinderwagen. Im Park balancieren einige Jugendliche auf einer Slackline, und über den ganzen Platz dröhnt Rockmusik. Sie kommt aus einem großen Gebäude neben der Straße – und weckt mein Interesse. Ist da ein Schulfest? Am Samstag?

Vor dem Gebäude, unter einem Vordach, sind endlos lange Tischreihen gedeckt – da passen bestimmt 200 Leute dran, denke ich. Kurz darauf wird mir klar, was hier stattfindet. Ein Sportfest. Immer wieder drängelt sich Applaus zwischen die rockigen Töne, und ab und zu verlassen Kinder und Jugendliche in Trainingskleidung das Gebäude. Welcher Sport hier betrieben wird, bleibt mir allerdings verborgen. Vielleicht dieser baskische Nationalsport, bei dem ein Ball – ähnlich wie beim Squash – gegen zwei Wände geschlagen wird?

Ich nehme auf einer Parkbank Platz, streife die Five-Fingers von den Füßen und packe mein Menü aus. Die verstohlenen Blicke der Passanten nehme ich unterbewusst wahr. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Landstreicher, allerdings müsste mich die gut sichtbare Jakobsmuschel am Rucksack dieser Einstufung entheben. Egal, mir geht es gut. Ich freue mich über die Sonnenstrahlen und knuspere mein Mittagessen.

Später tape ich meine Fußballen mit Leukoplast – der 20-Kilometer-Marsch vom Vormittag ist nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Und Blasen will ich nun wirklich nicht haben. Dann schwinge ich wieder meinen Rucksack über die Schultern und gehe weiter. Wo ist denn jetzt der Jakobsweg? Vor lauter Einkaufen und Wasserzapfen habe ich ein wenig die Orientierung verloren. Ich frage eine Frau – und freue mich wieder über die Hilfsbereitschaft der Spanier. Sie dreht sich um, winkt mir, ihr zu folgen, und geht den Weg zurück, den sie gerade gekommen ist.

Schnell finde ich wieder gelbe Pfeile, kurz darauf kommen wir an der – gerade geschlossenen – Herberge im Karmeliterinnenkloster vorbei. Ich weiß jetzt wieder, wo ich hinmuss, aber die Frau lässt es sich nicht nehmen, mich noch ein ganzes Stück zu begleiten. Schließlich scheint sie der Meinung zu sein, dass ich mich jetzt nicht mehr verlaufen kann, und geht wieder in die andere Richtung davon.

Ich laufe aus der Stadt heraus. Wieder spüre ich in meinem Herzen die latente Angst, im Kloster in Zenarruza kein Bett mehr zu bekommen, und schaue mich verstohlen nach weiteren Rucksackträgern mit Muschel um. Wie blöd von mir, ich sollte wirklich ein wenig mehr Vertrauen haben. Wie sagte mein Schatz zu mir: „Der Weg gibt Dir das, was Du brauchst.“ Auf einer Bank in einer Grünanlage entdecke ich Arne, den Polizisten. Er liest seelenruhig in seinem Kindle und winkt mir kurz zu. Arne hat wohl keine Angst, kein Bett mehr zu bekommen, denke ich.

Ich überquere eine Brücke und suche dann den weiteren Weg, der – wie der Führer richtig sagt – „leicht versteckt“ ist. Ich gehe an einem Haus vorbei und zögere: Bin ich hier richtig? Schon ruft mir jemand etwas auf Spanisch zu. Ich schaue nach oben: Aus dem dritten Stock winkt mir eine ältere Frau und weist nach links. Ich betrete einen schmalen Fußweg, der an einem Bach entlangführt. Wieder gibt mir mein Kleinhirn den bekannten „Schuhe-aus-barfuß-gehen“-Impuls, doch ich entscheide mich schweren Herzens dagegen. Zwar ist der Boden schön weich und wegen des nahen Wassers auch ein wenig feucht, aber ich würde das Leukoplast an den Füßen verlieren und müsste dann sofort neu tapen, wenn es wieder unwegsamer wird.

Der Weg entlang des Baches, der laut Führer den eigentümlichen Namen „Artibai Ibaia“ trägt, hat durchaus Charme: Sonnenstrahlen tanzen auf den Blättern der Büsche und Bäume, Kühe weiden auf den Wiesen nebenan. Einzig die Spinnenfäden, die mir immer wieder ins Gesicht fliegen, stören ein wenig die Idylle. Bald habe ich das Dorf Iruzubieta erreicht. Hier wartet wieder eine Steigung auf mich: einen Kilometer lang geht es bergauf durch den Wald. Die Vorfreude auf das Kloster Zenarruza wird immer größer – auf Bildern im Internet sah die Anlage sehr beeindruckend aus.

Weitere zwei Kilometer später habe ich das Dorf Bolibar erreicht. Vorbei am Simón-Bolívar-Museum (der Stammsitz der Familie befindet sich hier) erreiche ich den wirklich idyllischen Dorfplatz. Ich überlege kurz, in einer Bar etwas zu trinken, gehe dann aber doch weiter. Nachdem ich ein paar Treppen erklommen habe, stehe ich fast ehrfurchtsvoll am Beginn des Wegs zum Kloster. Ich streife mir die Five-Fingers von den Füßen, um die jahrhundertealten Steine zu spüren, auf denen schon Generationen von Jakobspilgern unterwegs waren. 800 Meter geht es nun hinauf. Die touristische Herberge lasse ich links liegen – dort könnte ich im Notfall übernachten, wenn im Kloster kein Bett mehr frei ist.

Die Sonne hat sich verzogen, es fängt wieder an zu tröpfeln. Nach einer Wegbiegung kommt das Zisterzienserkloster in Sicht. Der Bau stammt aus dem 16. Jahrhundert, verrät mir mein Führer. Irgendwie erinnert mich die Anlage an ein Kloster an der Adria, das ich mit der Familie vor zwei, drei Jahren besichtigt habe – nur das Meer fehlt.

Ich gehe an ein paar Steinkreuzen vorbei durch einen Torbogen in den Hof. Die Steine sind hier teilweise von Gras überwuchert. Mönche sind nirgendwo zu sehen – ob die auch Siesta halten? Vor der Kirche treffe ich eine überschaubare Zahl von Pilgern, was meine Angst, kein Bett zu bekommen, schwinden lässt. Rainer ist schon da, dazu ein Paar aus Texas. Im Führer steht, dass die Pilgerherberge ständig geöffnet ist, doch der Klosterladen, in dem man sich melden soll, ist verrammelt.

Leider trifft das auch auf die Kirche zu. Der prächtige Kreuzgang dagegen ist zugänglich – ich bestaune die Säulen, die einen begrünten Innenhof umstehen, und die steinernen Muschelsymbole an den Kapitellen. Mich fröstelt etwas, die Sonne ist weg, und ich bin wieder durchgeschwitzt. Keine gute Kombination, also beschließe ich, in Bewegung zu bleiben und mich ein wenig umzusehen. Der Klosterladen sieht verlockend aus – ob es da auch selbstgebraute Cerveza gibt?

Schließlich treibt der Texaner einen älteren, etwas mürrisch aussehenden Mönch auf, der – einen riesigen Schlüssel in der Hand – uns zu folgen bedeutet. Wir schultern unsere Rucksäcke und trotten hinter ihm hier, vorbei am Klosterladen und einem moderneren Gebäude, vielleicht ein Gästehaus.

Die beiden Zimmer für die Pilger befinden sich hinter diesem Gebäude. Vor der Tür stehen im Regal einige Wanderschuhe, auf dem Wäscheständer hängen einige Textilien. Nanu? Sind etwa doch schon andere Pilger da? Die Tür ist von innen verriegelt, der Mönch klopft energisch, und kurz darauf schaut ein verschlafenes Gesicht durch den Spalt – es ist Moira aus Alaska. Als wir uns erkennen, gibt es ein großes Hallo. Wir betreten den Raum: es gibt eine Küchenzeile und einen Tisch mit Stühlen. Auf der anderen Seite drängeln sich fünf Etagenbetten.

In einem dieser Betten schält sich gerade eine weitere Frau aus dem Schlafsack. Wir machen uns bekannt: Ilona kommt aus dem Siegerland. Die beiden erzählen, dass sie am Vortag in Markina übernachtet haben und dann beschlossen, heute einen lazy day einzulegen. So seien sie schon um 11 Uhr am Kloster angekommen. „Um 11 Uhr?“, frage ich, „hat man Euch so früh reingelassen?“ Moira grinst: „Der Mönch hat uns gesagt: Ich könnt rein, wenn Ihr das Putzen übernehmt.“ Das haben die beiden auch getan und anschließend im Schlafsack eine ausgiebige Bubu-Phase eingeläutet – aus der wir sie schließlich herausgeholt haben.

Ich belege eines der Betten, packe meine Siebensachen aus und mache mich dann auf die Suche nach den Duschen. Diese befinden sich unter dem Pilgerschlafraum, eine Treppe führt draußen zu einer Tür in einer Steinwand. Ich wärme mich mithilfe des Wasserstrahls wieder auf und wasche meine Klamotten.

Dann setze ich mich an den Tisch und schreibe ein wenig in mein Tagebuch. Auf dem Tisch stehen Blumen – die Vase weckt mein Interesse. Es sind leere Bierflaschen; auf dem Etikett prangt die Silhouette des Klosters. Offenbar verbringen die Mönche einen Teil ihrer Zeit am Braukessel. Ich suche den Klosterladen auf, der mittlerweile geöffnet hat. Es gibt jede Menge leckere Sachen; wenn ich nicht als Pilger unterwegs wäre, hätte ich bestimmt etwas Marmelade, ein paar Kekse und natürlich ein paar Flaschen Bier mitgenommen.

In der Ecke entdecke ich einen Kühlschrank und nehme eine große Flasche Kloster-Cerveza heraus. Es gibt drei verschiedene Sorten, ich entscheide mich für die hellere, aber naturtrübe Variante und bezahle am Tresen. Der Mönch dahinter sieht wesentlich freundlicher aus als sein Mitbruder vorhin. Der Schalk blitzt ihm aus den Augen. Er fragt mich auf Spanisch, woher ich komme. „Alemania“, antworte ich. „Guten Tag“, begrüßt er mich dann auf Deutsch. In einer Vitrine fällt mein Blick auf einige Dosen mit Propoliscreme. Das wäre ein ideales Mitbringsel für meinen Schatz, denke ich. Auch wenn ich die Dose dann noch zwei Wochen durch die Gegend schleppen muss, nehme ich ein Exemplar mit.

Zurück in der Herberge genehmige ich mir die Cerveza. Das Bier schmeckt himmlisch – kein Wunder, ist ja auch von Mönchen gemacht – und weckt Begehrlichkeiten: einige andere Pilger tun es mir nach, dackeln zum Laden und versorgen sich mit Gerstensaft. Kurz darauf erscheint erneut der kauzige Mönch, zeigt uns den Pilgerstempel und die Holzbox an der Wand, in die wir unser Donativo stecken dürfen. Zudem verkündet er uns, dass nachher in der Klosterkirche ein Benefizkonzert mit einem Gregorianik-Chor stattfinden wird.

Die Tür geht erneut auf, und Kyle kommt herein. Wir begrüßen uns, hocherfreut, dass unser Abschied in Zumaia doch nicht für immer war. Zudem trifft ein hochgewachsener schlanker Pilger ein. Er stammt aus Berlin, erzählt er. Bald darauf ist es Zeit, zum Konzert zu gehen. Als wir den Klosterhof betreten, begegnen wir zahlreichen gut gekleideten Menschen, die alle der Kirche zustreben. Wir sind mal wieder hoffnungslos underdressed und beim Konzert wohl besser in einer der hinteren Reihen aufgehoben.

Die Entscheidung wird uns allerdings abgenommen, denn die Kirche ist bereits rappelvoll. Mönche huschen umher und stellen weitere Stühle auf. Wir setzen uns in die letzte Reihe. Für den festlichen Anlass ist die Kirche voll illuminiert. Mir geht das Herz auf: der prächtige Hochaltar mit seinen vielen Details und die in warmes Licht gehüllten Natursteinmauern sind einfach toll anzusehen.

Das Programmheft kündigt den „Coro de canto gregoriano“, oder wie er auf Baskisch heißt, den „Kantu Gregorianoko Abesbatza“ an. Auf der nächsten Seite befindet sich das Programm – es besteht größtenteils aus dem Códice de las Huelgas, das im 13. Jahrhundert in Burgos geschrieben wurde. Ich blättere noch eine Seite weiter – und stelle fest, dass auch am Sonntagabend ein Konzert in der Klosterkirche stattfinden wird. Wow, denke ich, das Gloria von Vivaldi mit Orchester und Solisten. Das wäre auch toll gewesen.

Das Konzert beginnt: Singend ziehen die Chormitglieder hintereinander von hinten in die Kirche ein und nehmen vor dem Altar Aufstellung. Die Musik ist einfach atemberaubend. Ich fühle mich wie im Mittelalter. Das würde meinem Schatz auch gefallen, denke ich und zücke das iPhone, um den Kunstgenuss elektronisch festzuhalten. Zwar wird der Ton, in der letz- ten Reihe aufgenommen, nicht der Beste sein, aber zum einmaligen Vorspielen wird es reichen.

Nach einer guten Stunde ist der Chor mit seinem Programm durch und lässt schließlich zwei Zugaben folgen. Wir bleiben noch ein wenig sitzen, bis sich die Kirche geleert hat, und kehren dann in unsere Pilgerunterkunft zurück. Mittlerweile knurrt uns gewaltig der Magen, doch Abhilfe naht: einer der Texaner (der eigentlich aus Kolumbien stammt, wie er am Nachmittag erzählt hat), spendiert ein paar Stücke Käse aus dem Klostershop. Wenige Minuten später geht die Tür auf und der ältere Mönch kommt herein. Vor dem imposanten Bauch trägt er einen nicht minder imposanten Topf mit gefühlt 20 Litern Gemüsesuppe. Wer soll das alles nur essen?

Schnell ist der Tisch gedeckt, und wir machen uns an den Feldversuch, den Topfboden zu sehen. Erfolglos. Die Suppe, in der Rosenkohl, Bohnen und Spargel zu finden ist, ist einfach nicht leerzukriegen. Zudem schmeckt sie so, als hätten auch schon Pilger am Vortag erfolglos versucht, den Topf zu leeren. Egal, wir haben etwas Warmes, Fettiges im Bauch. Dazu lassen wir uns noch ein Glas Klosterbräu schmecken.

Wieder behalte ich die Uhr im Auge: Ich will auf keinen Fall die Komplet, das gesungene Abendgebet der Mönche, verpas- sen. Zudem soll es hinterher noch einen speziellen Pilgersegen geben. Die Schuhe lasse ich dafür in der Herberge, die menschenleere Kirche wird mir meine abendliche Barfüßigkeit sicher verzeihen. Ilona schließt sich mir an, und gemeinsam neh- men wir in einer der vorderen Bankreihen Platz.

Nach ein paar Worten schon merke ich: wir liegen auf einer Wellenlänge. Es macht Spaß, mit ihr zu plaudern. Wir tauschen ein wenig Familiengeschichte aus – und werden schnell persönlich. Ilona erzählt mir, dass sie geschieden ist und zwei erwachsene Kinder hat. Vor einigen Jahren hat sie im Urlaub einen anderen Mann kennengelernt, geheiratet und wohnt jetzt in Ägypten. Dort gibt sie Kindern privaten Sprachunterricht.

Als sich im Chorraum die Tür öffnet, brechen wir unsere Konversation ab. Ein Mönch nach dem anderen kommt herein und nimmt im Chorgestühl Platz. Insgesamt sind es acht Mönche; einer davon – vermutlich der Abt – schnappt sich ein Keyboard und beginnt umständlich, das Stromkabel einzustöpseln. Schade, auf Orgelklänge muss ich heute Abend wohl verzichten, denke ich. Endlich ist das Keyboard bereit – und wird im Folgenden lediglich dazu benutzt, den Mönchen den Ton anzugeben. Gesungen wird a cappella.

Der Gesang ist natürlich qualitativ in keiner Weise zu vergleichen mit den Darbietungen des Gregorianikchors – aber das ist auch kein Wunder, schließlich ist ein Mönch kein Profisänger und das Kirchengebet kein Konzert. Auch so zaubert das Singen eine andächtige Atmosphäre in das fast völlig leere Gotteshaus.

Als die Komplet beendet ist, kommen wir Pilger nach vorne. Einer nach dem anderen erhält vom Abt den Segen, die anderen Mönche stehen im Halbkreis dahinter, dann verschwinden sie wieder durch die Tür zurück ins Kloster. Ilona und ich setzen uns erneut in die Bank und nehmen unser Gespräch wieder auf, bis einer der Mönche erscheint, um die Kirche abzuschließen.

In der Herberge mache ich meine Sachen bereit für den Ab- marsch am nächsten Tag. Ilona kommt dazu und begutachtet mein Beutel-System: Statt alles einfach in den Rucksack zu stopfen, habe ich immer einige wenige Kleidungsstücke in einem Stoffbeutel – ein unbezahlbarer Tipp meines Schatzes. „So sehe ich schnell, dass ich alles habe, und vergesse nichts“, erläutere ich Ilona.

Am schwarzen Brett wartet noch eine Überraschung auf mich: die Messe findet morgen nicht – wie in meinem Führer steht – um 8 Uhr statt, sondern erst um 12 Uhr. So lange will ich hier nicht warten, also muss ich schauen, ob ich morgen unterwegs eine Möglichkeit finde, in die Kirche zu gehen.

Bald finden wir uns alle wieder am Tisch ein, erzählen uns über den Monstertopf mit Gemüsesuppe hinweg gegenseitig unsere bisherigen Camino-Erlebnisse. Ich lerne Nicolas kennen, der in Berlin studiert. Ein langer, schlanker, fröhlicher junger Mann, der mit seiner Ausstrahlung sofort die Herzen erobert. Den beiden Tschechen sind wir zu laut – sie wollen lieber früh schlafengehen und ziehen dafür freiwillig einen Stock tiefer – im Kellergeschoss neben den Duschen gibt es noch einen kleinen, wenig einladenden Schlafraum. Beim einen oder anderen Glas Kloster-Cerveza geht ein wunderschöner Tag zuende.

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

 

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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