Tag 4: Von Pasaia nach San Sebastian (12 Kilometer)
Der Motor tuckert leise, als das kleine grüne Boot am Landungssteg Halt macht. Gerade bin ich erneut die zahlreichen Steinstufen von der Eremita Santa Ana hinuntergestiegen. Nun will ich auf die andere Seite der kleinen Bucht, um auf dem Jakobsweg weiterzugehen. Die Nacht war wieder spitze, ich fühle mich erholt und freue mich auf den Küstenweg nach San Sebastian.
Ich löse eine Fahrkarte (70 Cent, wirklich günstig) und will mich setzen, aber das ist schwierig: Die Bänke sind alle noch feucht. Ist das Morgentau, oder hat es in der Nacht geregnet? Egal, ich bin froh, dass jetzt aus dem wolkenverhangenen Himmel kein Nass auf mich herabfällt. Ich bleibe also stehen, bis das Boot mich vom Ortsteil Donibane zum Ortsteil San Pedro übergesetzt hat. Ein paar Meter weiter liegen Frachtschiffe vor Anker, die Kräne am Ufer recken ihre Arme gen Himmel. Pasaia hat laut Führer den größten natürlichen Hafen des Baskenlandes.
Ich bin ganz alleine auf dem Boot. Gabriela ist schon früh aufgebrochen, Verena und Moira schlafen zwar offenbar genauso gerne wie ich ein wenig länger, wollen aber noch einen Kaffee trinken gehen. Als das Boot nach nur 100 Metern Fahrt auf der anderen Seite ankommt, schicken mich die gelben Pfeile nach rechts, die Uferpromenade entlang.
Ein paar Metallstangen am Wegesrand wecken mein Interesse: In die Stangen sind Haken gefräst, daran hängen zahlreiche Tüten und Plastikeimer. Was das wohl ist? Als ich nähertrete, wird mir klar, um was es sich handelt – es geht um Müllbeseitigung. Offenbar gibt es hier keine Mülltonnen, sondern eben diese Vorrichtung. Eine gute Idee, es nimmt nicht so viel Platz weg und sieht auch noch originell aus…
Ich gehe weitere 800 Meter auf die Hafeneinfahrt zu, von der ich auf das offene Meer hinausschauen kann. Dann führen Treppen nach links den Berg hinauf. Ich komme ganz schön außer Atem, werde aber bald mit einem tollen Blick über Pasaia belohnt. Auf dem Hügel am anderen Ufer sehe ich noch einmal die Pilgerunterkunft, die von hier aber gar nicht wie eine Herberge, sondern wie eine ganz normale Natursteinkapelle aussieht.
Nach weiteren 600 Metern kommt der Leuchtturm in Sicht – ein beeindruckendes Bauwerk, das auf einem Hügel an der Steilküste thront. Mein Weg führt mich allerdings nach links, auf einen laut Führer „faszinierenden und überraschend ein- samen Küstenabschnitt auf schmalen Wegen und Pfaden“. Ich überlege, die Schuhe auszuziehen, entscheide mich aber dafür, zunächst in den Five Fingers weiterzugehen. Es wäre zwar herrlich, den weichen Boden unter den Sohlen zu spüren, aber dann müsste ich immer wieder hinschauen, wo ich hintrete (das Los eines Barfußläufers) und könnte den Ausblick nicht genießen.
Der ist nämlich grandios: Schroffe Felsformationen stellen sich den Wellen entgegen, die nahezu ungebremst gegen den Stein klatschen und ziemlich heftige Wasserfontänen zurücklassen. Einsam ist der Weg allerdings nicht. Zwar sehe ich keine Pilger, aber mir kommen immer wieder Spaziergänger (Marke älterer Spanier mit kurzen Hosen und nacktem Oberkörper) oder Jogger entgegen. Immer wieder bleibe ich stehen, um Fotos von dieser wirklich faszinierenden Küstenlandschaft zu schießen. Der Weg ist sehr angenehm zu gehen, schmal zwar, aber oft mit großen Steinen, die aus dem rötlichen Sand ragen.
Ich halte nach der im Führer beschriebenen Abzweigung Ausschau: Zwar will ich den Küstenweg bis San Sebastian weitergehen, ich habe mir aber einen kleinen Abstecher vorgenommen. Ich will bei den „Zwölf Stämmen“ rasten. Diese Glaubensgemeinschaft ist vor ein paar Jahren in Deutschland in die Schlagzeilen geraten, weil sie ihre Kinder selbst unterrichten wollen, statt sie in die Schule zu schicken. Es hätte mich gereizt, bei den „las doce tribus“, wie die Gemeinschaft auf spanisch heißt, zu übernachten – sie bieten Pilgern nämlich gegen Spende ein Bett an. Aber die Kultherberge in Pasaia hatte bei der Auswahl gewonnen. Jetzt will ich wenigstens dort frühstücken und in der ökologischen Bäckerei ein Brot erstehen. An der Abzweigung biege ich also nach links ab.
Dass die Gemeinschaft auf einem Berg, dem Monte Ulia, zu Hause ist, habe ich gelesen. Dass es auf der Betonpiste aber so steil bergauf geht, hätte ich nicht erwartet. Ich versuche das Tempo zu halten, aber es gelingt mir nicht – die untrainierten Oberschenkel versagen den Dienst. Also langsamer. Fast im Schneckentempo gehe ich den Berg hinauf. Bald kommt ein riesiges Holzschild in Sicht. „Bienvenidos a nuestra casa“, steht darauf. Ob ich schon da bin? Auf der rechten Seite liegt ein wunderschönes Haus in einem parkähnlichen Garten. Es könnte auch eine Bar sein, denke ich. Aber dann sehe ich einen Mann im mittleren Alter durch den Garten schlendern. Er trägt eine Latzhose und einen imposanten, alttestamentlichen Bart. Ich glaube, ich bin hier doch richtig.
Ich gehe den Kiesweg hoch, stelle auf einem Stuhl vor dem Eingang den Rucksack ab und betrete eine Art Wintergarten. Drinnen sitzt Gabriela an einem Tisch, knuspert an einem Marmeladenbrot und winkt mir zu. Ich geselle mich zu ihr. Aus einer Tür taucht eine Frau auf, sie trägt einen langen Rock, die Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Freundlich fragt sie mich, ob ich frühstücken möchte.
Ich bekomme eine Tasse Tee, getoastetes Brot (vermutlich aus der hauseigenen Bäckerei) und zwei Sorten Marmelade. Das Ambiente ist wirklich toll: viel Holz, eine Theke, deren Dach mit alten Schindeln gedeckt ist, ein Bullerofen in der Ecke. Durch die großen Fenster fällt viel Licht herein, aus einem unsichtbaren Lautsprecher erklingt leise meditative Musik. Ein Ort zum Wohlfühlen.
Als Gabriela und ich unser Frühstück beendet haben, frage ich nach der Möglichkeit, Brot zu kaufen. Ein junges Mädchen in der gleichen „Uniform“ (langer Rock, Bluse, Pferdeschwanz) führt uns in einen Nebenraum. Rechts in der Wand ist der Backofen, ein wahres Ungetüm, der aber offensichtlich für heute schon Feierabend hat. Auf einem großen Holztisch liegen in Kisten verschiedene Brote. Es duftet verführerisch. Ich entschei- de mich für ein Dinkelbaguette und zwei kleine runde Brote, die mit Sesam bestreut sind. Gerade mal 2,50 Euro muss ich dafür bezahlen – ich drücke das Geld einem weiteren Mädchen, wohl die Schwester, in die Hand.
Gabriela und ich geben unser „Donativo“, also eine Spende, für das Frühstück in ein bereitgestelltes Holzkästchen. Sie überreicht uns noch eine Visitenkarte mit der Adresse der Bäckerei in San Sebastian, in der die hier gebackenen Brote verkauft werden. Dann verabschieden wir uns von der Gastgeberin und schwingen unsere Rucksäcke auf den Rücken.
Plötzlich wird es hektisch: mehrere Polizeiautos kommen die Auffahrt hoch und halten vor dem Gebäude. Die Türen fliegen auf, ein gutes Dutzend Beamte ergießt sich in den Garten. Einige machen sich sofort auf den Weg zur Rückseite des Gebäudes, Schlagstöcke in der Hand. Aus einem weiteren, zivilen Wagen steigt eine Frau aus, eine dicke Papierkladde auf dem Arm. Die ist bestimmt vom Amt, denke ich. Die beiden Mädchen haben sich verzogen, die „Zwölf Stämme“-Frau lehnt mit ernstem Gesicht am Türrahmen. Sie scheint Kummer dieser Art gewöhnt zu sein.
Mir tun die Leute leid, aber ich kann natürlich nicht hinter die Kulissen schauen – und mir deshalb auch kein Urteil erlauben. Wir machen uns auf den Weg, ich zücke meinen Fotoapparat, um noch ein paar Bilder von dem wirklich beeindruckenden Garten zu machen, werde aber gleich von einem Polizisten angeherrscht, ich dürfe keine Beamten fotografieren.
Bergab zurück zur Abzweigung, die wieder auf den Küstenweg führt, geht es natürlich schneller. Bald bin ich wieder am Meer angelangt. Im Führer ist von einem „absolut spektakulär gelegenen Aussichtspunkt“ die Rede, den ich nicht verpassen sollte. Er liege aber abseits des Weges und könne leicht übersehen werden, merkt der Führer noch an. Immer wieder frage ich mich, ob ich diesen Aussichtspunkt schon erreicht habe, denn es bieten sich spektakuläre Ausblicke am laufenden Band. Ich schieße ein Foto nach dem anderen, bleibe deshalb immer wieder stehen und komme nur langsam voran.
Kurz darauf holen mich Verena und Moira ein, die auch an diesem Tag zusammen laufen. Gemeinsam erreichen wir schließlich den „richtigen“ Aussichtspunkt. Mir geht das Herz auf angesichts dieser Naturschönheit. Bizarre Felsen ragen in den Himmel, zu meinen Füßen rauscht der Ozean. Über Serpentinen geht es teilweise steil bergauf, bis nach einiger Zeit San Sebastian in Sicht kommt.
Donostia heißt die Stadt auf Baskisch, laut Führer „zweifellos eine der schönsten Städte Europas“. In der Tat sieht San Sebastian von oben ziemlich imposant aus: Unter mir erkenne ich die Brücke über den Fluss Urumea, daneben den Kongresspalast (mit dem kurioserweise deutschen Namen „Kursaal“). In der Ferne ist die berühmte Bucht „La Concha“ (zu deutsch Muschel) mit ihrem von Hotels gesäumten Stadtstrand zu sehen.
„Es ist eine großartige Stadt, in der Sie einen Tag verweilen sollten“, empfiehlt der Führer. Das allerdings habe ich nicht vor, ich will ja heute noch nach Orio weiter. Außerdem bin ich doch Pilger, kein Tourist. Von Verena und Gabi dagegen weiß ich, dass sie die Nacht in San Sebastian verbringen wollen. Bald bin ich in der Stadt angekommen und laufe die Brücke entlang in Richtung Altstadt. Ich suche einen Platz zum Rasten, will mir eines der Brote aus der „Zwölf Stämme“-Bäckerei schmecken lassen – am liebsten am Strand „La Concha“.
Doch als ich den prachtvollen Boulevard – vorbei am Theater – entlanglaufe, merke ich, dass ich immer müder werde. Was ist nur los? Hat mich der Jaizkibel doch mehr geschlaucht als ich dachte? Der Rucksack kommt mir bleischwer vor. Als ich die wirklich atemberaubende Bucht La Concha erreiche, finde ich auf einem kunststoffbeplankten Steg ein Plätzchen zum Anlehnen. Ich packe mein Brot aus und die restlichen Magdalenas aus der Bäckerei in Santander.
Doch auch die Rast macht mich nicht wirklich munter. Es ist zwar erst Mittag, aber ich spüre, dass ich die 12 Kilometer bis Orio heute nicht mehr schaffen werde. Die nächste Lektion in Sachen „ich nehme alles, wie es kommt“. Ich zücke den Führer und schaue, wo in San Sebastian die Herberge ist. Unglücklicherweise sind es bis dahin noch rund zwei Kilometer. Wenn ich am Nachmittag nochmal in die Stadt will und am Abend zur Herberge zurücklaufe, muss ich nochmal sechs Kilometer zurücklegen. Das schaffe ich nicht.
Jetzt muss wieder das Internet helfen. Ich schaue bei booking.com nach einer bezahlbaren Unterkunft in der Stadt. In der Pension Anne ist noch ein Zimmer frei – für 30 Euro. Das ist happig, ist damit doch mein Tagesbudget für den Camino schon aufgebraucht. Aber ich habe keine Wahl – also buche ich das Zimmer und mache mich auf den Weg zur Pension. Sie liegt mitten in der Altstadt, nur ein paar Minuten Fußweg entfernt.
Kurz darauf stehe ich vor der Eingangstür. Die Pension liegt in einer ruhigen Nebenstraße, ein unscheinbares Schild an der Hauswand im ersten Stock sagt mir, dass ich richtig bin. An der Klingelanlage muss ich nicht lange suchen – die Spanier schreiben normalerweise keine Namen an die Klingel, vielmehr steht dort nur „2. Stock links“ oder „4. Stock rechts“. Im ersten Stock entdecke ich die Klingel für die Pension Anne. Ich stapfe eine imposante Holztreppe hinauf – und schaue in das überraschte Gesicht einer Frau, die im Türrahmen steht.
Aus ihrem spanischen Wortschwall filtere ich heraus, dass sie noch nicht mit mir gerechnet hat. Ich hätte doch gerade erst gebucht, das Zimmer sei noch nicht fertig. Kein Problem, radebreche ich, stelle meinen Rucksack in den Wandschrank und nehme die Schlüssel zur Pension entgegen. Ich solle in 20 Minuten wiederkommen, ruft mir die Frau noch nach, als ich mich auf den Weg nach unten mache.
Wie könnte man die Wartezeit besser überbrücken als mit einer Cerveza grande? Direkt neben der Pension tummeln sich rund um einen kleinen Platz drei Bars. Ich mache es mir auf einem Stuhl bequem – und brauche eine Weile, bis ich verstehe, dass wohl kein Kellner kommen wird. Ich muss mir mein Bier selbst holen. In der Bar läuft auf dem Fernseher gerade eine Reportage – über das Mittelrheintal. „Meine Heimat“, sage ich zum Barkeeper und zeige auf das TV-Gerät. Der junge Mann schaut tatsächlich hoch. Eigentlich ist es ja dämlich, einen Spanier mit so etwas zu behelligen; ich finde es nur witzig, 1400 Kilometer von zuhause entfernt plötzlich mit Bildern aus der Heimat konfrontiert zu werden.
Als das Glas leer ist und die 20 Minuten um sind, stapfe ich wieder die Holztreppe hoch, schließe die Tür zur Pension auf – und schaue in das gleiche überraschte Gesicht. Was ich denn schon hier wolle, fragt mich die Pensionswirtin. Ich entgegne, dass die 20 Minuten um seien. Daraufhin fragt mich die Dame: „Sie sind sicher aus Deutschland?!“ Ich lache und nicke, und sie sagt in bestimmendem Ton: „Merken Sie sich eins: Wenn in Spanien jemand sagt, in 20 Minuten, dann meint er damit 45 Minuten – mindestens.“
Ich warte ein paar Minuten, bis die Wirtin – ist das eigentlich Anne? – das Bett fertig bezogen hat. Das Zimmer ist wirklich schön. Die Pension ist eigentlich eine Stadtwohnung, in der drei Zimmer für Gäste eingerichtet sind. Es gibt ein Gemeinschaftsbad. „Wenn das besetzt ist, dann gehen Sie einfach in unser Bad“, meint sie und winkt mir zu folgen. Durch eine Tür geht es in die privaten Gemächer, vorbei an Wohnzimmer und Küche. Die Waschmaschine läuft, der Fernseher auch.
Apropos Waschmaschine. Ich frage nach einer Möglichkeit, meine Wäsche sauber zu bekommen. Die Wirtin verdeutlicht mir mit vielen Worten, von denen ich ungefähr ein Fünftel verstehe, dass sie meine Wäsche waschen wird. Ich könne sie morgen hier – und sie zeigt auf einen Tresen – wieder abholen. Geld will sie dafür nicht haben. Knuffig. Ich habe die Dame schon jetzt in mein Herz geschlossen.
Nach einer heißen Dusche geht es mir wieder gut. Eigentlich könnte ich jetzt doch noch weiterlaufen, aber der Zug ist jetzt abgefahren. Schmunzelnd und auch ein wenig demütig denke ich daran, dass aus dem Pilger jetzt doch ein Tourist geworden ist. Wie war das noch? Ich nehme alles so, wie es kommt.
Und es gibt sicher schlimmere Schicksale, als in San Sebastian gestrandet zu sein. Gestrandet ist das Stichwort: Ich mache mich auf den Weg zum Stadtstrand. Dort angekommen, lasse ich mir die Wellen um die nackten Füße spülen. Auf dem langen Sandstrand ist eine ganze Menge los: Zahlreiche Menschen sonnen sich, trotz des – wie ich finde – kalten Wassers (eine Tafel verkündet, dass es 18 Grad hat) tummeln sich Dutzende in den Fluten. Und nach und nach kommen auch Jugendliche ans Wasser – offenbar ist die Schule aus.
Ich will mir unbedingt noch die Kathedrale anschauen, vermute aber, dass sie während der Siesta verrammelt ist. Also lasse ich mir Zeit, genieße die Ruhe und freue mich, dass nun sogar noch die Sonne herauskommt. Gegen 16.30 Uhr erreiche ich dann die Kathedrale, die aber immer noch zu ist. Zeit für ein Eis, befinde ich, und erinnere mich, beim Gang durch die Stadt zum Strand eine Eisdiele mit zahlreichen verlockenden Sorten gesehen zu haben.
Eine halbe Stunde später ist das Eis geschleckt und die Kathedrale endlich offen. Ich schaue mich ein wenig um, mache ein paar Fotos, und gehe dann in Richtung Altstadt. Die Kirche Santa Maria will ich mir unbedingt auch noch anschauen. Dort angekommen, stelle ich fest, dass der Besuch der Kirche Eintritt kostet. Das sehe ich nicht ein, schließlich ist es ja ein Gotteshaus, kein Museum.
In die Altstadt kehrt ganz allmählich wieder Leben ein, die ersten Bars öffnen, Stühle werden nach draußen gestellt. Ich will am Abend unbedingt noch Tapas essen, die in San Sebastian Pintxos heißen und laut Führer die besten in ganz Spanien sind, doch zuerst gehe ich weiter durch die Altstadt zur Kaimauer. Dort erwartet mich ein wirkliches Spektakel: Immer wieder klatschen die Wellen gegen die riesigen Steinquader, die vor der Mauer aufgeschichtet sind; Wasserfontänen schießen meterhoch in die Luft und durchnässen ab und zu Fußgänger, die damit nicht gerechnet haben.
Fasziniert schaue ich dieser Naturgewalt zu und zücke mein iPhone, um ein paar Videos zu machen. Doch es kommt mal wieder Murphy’s Law zur Anwendung: Immer wenn ich ein Video aufnehme, kommt keine wirklich große Welle. Was soll’s, denke ich, und überlege, was ich mit dem Rest des Nachmittags anfangen könnte. Die Festung auf dem Monte Urgull sieht verlockend aus – von da oben habe ich bestimmt einen prima Blick über die Stadt. Allerdings weiß ich nicht so genau, ob ich mir das neuerliche Bergsteigen wirklich antun oder meine Kräfte für morgen sparen soll.
Ich bin noch zu keinem Entschluss gekommen, als ein Feuerwehrfahrzeug – ein Drehleiterwagen – vorfährt und an der Kaimauer anhält. Zwei Feuerwehrleute springen heraus und beginnen, das Fahrzeug mit rot-weißem Flatterband „einzuzäunen“. Ob da was passiert ist? Ich gehe näher und stelle fest, dass einer der Wehrmänner das Band einfach um den Außenspiegel eines geparkten VW Busses gewickelt hat. Was machen die, wenn da jetzt der Besitzer des Wagens kommt und… Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende, da kommt tatsächlich der Fahrer angelaufen. Ein wenig missmutig wickelt der Feuerwehrmann das Band wieder ab und schaut sich nach einer anderen Befestigungsmöglichkeit um. Der zweite Feuerwehrmann weiß sich zu helfen: Er holt von der anderen Straßenseite eine Mülltonne.
Als die beiden Wehrmänner einen menschlichen Dummy auf den Bürgersteig legen und in Klettergeschirr steigen, wird mir klar, dass sie wohl üben wollen, einen Menschen zu retten, der über die Kaimauer auf die Steinquader gestürzt ist. Dazu wird die Drehleiter ausgefahren – und hängt kurz darauf waagerecht genau über dem Bürgersteig. Ich muss wieder schmunzeln, wie unkompliziert doch die Spanier sind: In Deutschland hätte man vermutlich den kompletten Straßenzug gesperrt. Hier dagegen müssen nun alle Passanten den Kopf einziehen und unter der Drehleiter hindurchhangeln.
Ich beschließe, doch noch die Festung zu besteigen. Da das Wetter immer besser geworden ist, kann ich einige wirklich schöne Fotos machen. Auf dem Weg nach oben kommt mir ein Ordensmann mit einer braunen Kutte und einem weißen Rauschebart entgegen. Er ist vertieft in ein riesiges Bündel bedruckter Blätter und schaut auch nicht auf, als ich an ihm vorübergehe.
Am Abend suche ich die „richtige“ Bar für mein Pintxo-Abenteuer. Die Kriterien: nicht so teuer (die Preise schwanken zwischen 1,50 und 4,50 Euro, pro Stück), nicht so voll, nicht so laut. Zudem habe ich noch nie Tapas gegessen und bin ein wenig unsicher, wie man das macht. Bestellt man sie quasi a la carte, nimmt man sie sich einfach von den Tabletts auf der Theke, oder muss man dem Barkeeper sagen, was man will? Und was ist eigentlich auf den Tapas drauf? Beschriftet sind sie nicht: offenbar muss man entweder Bescheid wissen oder auf gut Glück probieren.
Ich durchlaufe die Altstadt zweimal, bis ich wirklich jede Bar inspiziert habe – nach dem Motto „…ob sich nicht was bess’res findet“. Es kommt, wie es kommen muss: Am Ende lande ich in der Bar, die mich gleich zu Beginn meines Rundgangs angelacht hat. Unbeholfen stehe ich am Tresen, schaue die Pintxos auf den Tabletts vor mir an und bestelle erstmal ein Glas Sidra.
Eine freundlich aussehende ältere Dame links neben mir spricht mich an – auf Englisch. Ich erfahre, dass sie aus Kalifornien kommt und auch auf dem Jakobsweg unterwegs war, allerdings auf dem Camino Frances. Dort hat sie allerdings eine Entzündung am Fuß bekommen, erzählt sie mir. Weiterlaufen sei unmöglich gewesen, „und da bin ich eben nach San Sebastian gefahren. Hier gibt es die besten Tapas in ganz Spanien“, lacht sie.
Das ist mein Stichwort: Ich frage sie, wie das denn funktioniert mit den Pintxos. Sie erklärt mir, dass ich nicht die kalten Tapas auf den Tabletts nehmen, sondern warme Pintxos direkt von der Karte ordern soll. Ich schaue auf einen Bildschirm, auf dem – natürlich in Spanisch – mindestens 20 verschiedene Sorten aufgeführt sind. Ich verstehe nur Bahnhof. Der Barkeeper sieht mein ratloses Gesicht, greift zur Fernbedienung und schaltet sich durch die verschiedenen Sprachoptionen. Französisch huscht über den Bildschirm, sogar chinesische Schriftzeichen, dann Englisch. Leider gibt es keine deutsche Übersetzung. Das Englisch hilft mir nur bedingt weiter, weil meine kulinarisch gefärbten Vokabelkenntnisse überschaubar sind. Also hilft nur der Blindflug.
Das erste Tapas, das ich ordere, ist zu meiner Überraschung gar keins. Der Kellner stellt in einer kleinen Schale eine Art Krokette vor mich, gefüllt mit Käse und Schinken. Sie schmeckt wirklich lecker, obwohl sie nicht zu meiner sonstigen Ernährungsweise passt. Aber ich habe mir schon zuhause abgeschminkt, in Spanien etwas Fleischloses zu finden – da muss ich die nächsten drei Wochen durch. Pintxo Nummer zwei ist ein Baguette mit einer Chorizo und Bacon, durchaus delikat. Das dritte Pintxo kommt mit einer Fischauflage daher und ist ebenfalls ganz schmackhaft.
Eigentlich bin ich schon satt. Soll ich noch ein viertes Exemplar ordern? „Wann kommst Du wohl mal wieder nach San Sebastian?“, überlege ich und bestelle todesmutig das vierte Blindflug-Tapas. Wieder kommt ein kleines Schälchen – und mir schwant, dass die Zugabe keine so gute Idee war. Tatsächlich: die kleinen Fleischstücke sind nur schwer genießbar. Irgendeine regionale Spezialität, werde ich ein paar Tage später vor einem Supermarkt-Regal lernen. Ich spüle den Inhalt der Schale mit einem weiteren Glas Sidra hinunter und ärgere mich über meine Maßlosigkeit – aller guten Dinge waren in diesem Fall wirklich drei.
Ich verabschiede mich von der kalifornischen Seniorin, begleiche die wirklich moderate Rechnung und mache mich auf den Weg zur Pension. Das letzte Pintxo rumort in meinem Magen und wird schließlich mit einer Tafel Schokolade zum Schweigen gebracht. In der Pension dudelt immer noch der Fernseher, in meinem Zimmer liegt die gewaschene und getrocknete Wäsche auf dem Bett. Auf Anne – wenn sie denn wirklich so heißt – ist wirklich Verlass!
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte