Tag 15: Von Güemes nach Santa Cruz-de-Bezana (17+7 Kilometer)
„Seid Ihr auch aus Amerika?“ Ein großer, breitschultriger, blonder, etwa 25 Jahre alter Mann strahlt uns an. Sein breites Grinsen imponiert mir. So sieht Gelassenheit aus, denke ich. Für Amerikaner hält er uns wohl, weil ich mich eben mit Kyle auf Englisch unterhalten habe. „Nein, ich bin Deutscher. Aber er“, und ich zeige auf Kyle, „er ist Amerikaner.“ Wir kommen ins Gespräch, mitten auf dem Küstenweg zwischen Barrío und Somo. Warum er in die falsche Richtung läuft, weg von Santiago de Compostela, frage ich ihn. „Ich bin evangelisch“, antwortet er. Sein Humor gefällt mir.
Er sei vor ein paar Wochen in Porto gelandet, dann habe er sich nach Santiago aufgemacht, sei dann weiter nach La Coruña, und dann nach Santander – und jetzt sei er hier. „Zu Fuß?“, frage ich ihn ungläubig. Nein, zunächst sei er mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, doch dann habe er festgestellt, dass man beim Radeln einfach kaum Leute kennenlernt. Deshalb gehe er jetzt zu Fuß. „Und wo hast Du Dein Fahrrad gelassen?“, hake ich nach. „Das habe ich verschenkt“, grinst der Amerikaner. Der Drahtesel stehe jetzt in der Herberge in Bezana, wo er vergangene Nacht geschlafen habe. „Das ist toll da, da müsst Ihr unbedingt hin“, fügt er hinzu.
Der Amerikaner hat noch einiges an Weg vor sich: er wolle jetzt bis nach Irun, dann durch Frankreich durch, dann über die Schweiz nach Italien, den Stiefel hinunter, erzählt er unseren verwunderten Gesichtern. Anschließend plant er, über Albanien nach Kroatien zu reisen. „Und dann fliege ich wieder nach Hause.“ Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus: Auf dem Rücken trägt der Amerikaner keinen Camino-Rucksack wie ich. Der Backpack verdient eher den Namen Beutelchen. Viel kann da nicht drin sein; ich bin versucht, ihn nach dem Inhalt zu fragen, finde das dann aber doch ein wenig indiskret. Dann zieht jeder wieder seines Weges – der Amerikaner geht nach Osten, Kyle und ich nach Westen.
Am Morgen hat es noch so ausgesehen, als bekäme ich meinen nächsten Dämpfer in Sachen „Ich nehme alles so, wie es kommt“: Es hat geregnet – keine guten Voraussetzungen für den sicherlich prachtvollen Weg über die Steilküste bis Somo. Doch nach dem Frühstück ist es aufgeklart, und wir haben unseren Weg im Trockenen fortsetzen können. Wir, das waren Kyle, Rainer und ich. Nachdem ich in Noja vergeblich darauf gehofft hatte, mit den beiden zu laufen und zu reden, hat es mit einem Tag Verspätung doch noch geklappt. Cindy hatte sich entschieden, wegen ihrer Beinprobleme in Güemes einen Tag auszusetzen – ebenso wie Gabriela, von der ich mich herzlich verabschiedet habe.
Auf dem Weg von Güemes nach Barrío San Miguel (ein toller Name für einen Ort – macht Lust auf eine Cerveza) haben wir ein sehr gutes Gespräch über den christlichen Glauben, die katholische Kirche und über Kindererziehung geführt. Dann haben wir die Steilküste erreicht und gemeinsam den richtigen Weg gesucht – weil es eine Alternativroute ist, war diese nicht ausgezeichnet. Beim Gang über eine Wiese wurden Kyles Schuhe feucht; Rainer hat ihm sein zweites Paar ausgeliehen, sich dann die Musikknöpfe ins Ohr gestopft und ist alleine weitergegangen.
Jetzt stehen Kyle und ich gemeinsam an der Felskante und können uns kaum sattsehen angesichts dieser Naturschönheit. Unter uns rauscht das Meer gegen die Felsen; die Ebbe hat tief unter uns ein paar beeindruckende Steinformationen freigegeben, die – ähnlich wie am Strand von Noja – in einem unwirklichen Grün schimmern. Das Wasser hat über lange Zeit tiefe Rillen in den Fels gegraben. Das Ganze wird von der Sonne, die sich mittlerweile gegen die Wolken durchgesetzt hat, ins rechte Licht gerückt.
Ich genieße es, nach der Landstraße zu Beginn des heutigen Tages nun barfuß über den sandigen Küstenpfad zu gehen. Nachher wartet laut Führer auch noch ein toller Strandweg auf uns, bis wir in Somo mit einem Boot nach Santander übersetzen werden. Viele der Pilger, die gestern mit uns in Güemes übernachtet haben, werden sicher in der nordspanischen Hafenstadt übernachten – in einer Pension oder in der öffentlichen Herberge, von der mir meine Pfälzer Pilgerfreunde aber dringend abgeraten haben (zu Recht, wie ich später erzählt bekomme).
Ich dagegen habe andere Pläne. Santander habe ich schon am Tag meiner Ankunft in Spanien vor zwei Wochen gesehen, zudem steht mir nicht der Sinn nach Stadttrubel. Ich will heute in Santa Cruz-de-Bezana übernachten. Laut Führer ist das Haus mit nur 14 Betten „eine der schönsten und authentischsten Herbergen des Weges“. Das „freundliche Pilgerpaar“ mit dem „sehr schönen, rustikalen Natursteinhaus“ und dem „sehr stimmungsvollen Aufenthaltsraum“ will ich mir nicht entgehen lassen. Bis Santa Cruz-de-Bezana sind es von Santander aus aber noch einmal neun Kilometer – das ergibt eine ordentliche Tagesetappe.
Es ist sehr angenehm, mit Kyle zu laufen. Wir haben etwa dasselbe Tempo, zudem wartet Kyle geduldig, bis ich an der nächsten schönen Stelle das x-te Foto gemacht habe. Und wir unterhalten uns prächtig. Kyle erzählt von seinem Studium in Florida, seiner Familie und seinen schon sehr weit gediehenen Plänen, ins Priesterseminar einzutreten. Er ist auch nicht „nur“ für den Camino nach Europa gekommen, sondern hat zuvor schon Italien und die ewige Stadt besucht. Nachdem er in Santiago angekommen ist, will er noch nach Pamplona, bevor der Flieger zurück in die Heimat geht.
Wieder bekommen wir Gegenverkehr: diesmal ist es eine Gruppe von Radfahrern – Touristen, keine Pilger. Direkt vor uns steigen sie ab und bitten uns, ein Foto von ihnen zu machen. Dann stellen sich die Radler direkt an die Felskante und beginnen, mit ihren Fahrrädern zu posieren. Die beiden jungen Männer, die ganz außen stehen, stellen ihre Drahtesel aufs Hinterrad und strecken das Vorderrad hoch in die Luft. Eigentlich ganz witzig, würde es nicht etwa 20 Zentimeter hinter ihnen 20 Meter nach unten gehen. Ich verkneife mir den Satz „Bitte noch einen Schritt nach hinten“, drücke ein paarmal auf den Auslöser (wenn man bei einer Handykamera von Auslöser sprechen kann) und bin froh, dass die Sache ohne Unfall ausgegangen ist.
Wir nähern uns Somo, was man auch an der zunehmenden Zahl von Spaziergängern und Joggern feststellen kann. Links von uns erhebt sich aus der Natur das eine oder andere Ferienhaus. Die Grundstücke sind riesig, die Gebäude luxuriös, der Blick aufs Meer ist grandios – eigentlich müsste man eher von Villen sprechen. Dann erreichen wir das Ende des Küstenwegs. An einem Parkplatz führt eine Treppe hinunter zum Strand, der von einigen imposanten Felsen gesäumt ist. Bei Flut wäre hier kein Durchkommen, berichtet mir der Führer. Den im Buch beschriebenen Umweg können wir uns allerdings sparen, denn das Wasser hat sich weit genug zurückgezogen.
Was für eine wunderbare Landschaft: Links von uns erheben sich Dünen, die ihren Namen endlich mal verdienen. Rechts kann man am Horizont Santander erkennen – die Halbinsel La Magdalena mit dem Königspalast reckt sich uns fast ein wenig vorwitzig entgegen. Einzelne Schiffe funkeln im Sonnenlicht. Am weiten Sandstrand vor uns flanieren Touristen, einige Surfer in Neoprenanzügen waten ins Meer hinein, das Brett unter den Arm geklemmt. Kyle hält ein wenig Abstand zum Wasser, er will sich die Schuhe nicht schon wieder nass machen. Ich frage ihn, ob es okay ist, wenn ich meine Füße ins Meer hänge. Er ist einverstanden, und so trennen wir uns für ein paar Kilometer.
Ich hänge meinen Gedanken nach, danke Gott für diesen wunderschönen Tag und die atemberaubende Natur. Hätte ich mehr Zeit (und gäbe es in Somo eine Pilgerherberge), dann hätte ich mir durchaus vorstellen können, hier einen Tag zu verweilen. So aber gehe ich an der Meereskante weiter nach Westen.
Die Landzunge von Somo ragt noch mehr als einen Kilometer in die Bucht von Santander hinein – dort entlangzulaufen, wäre bestimmt toll. Doch ich muss nun den Strand verlassen und durch Somo zur Anlegestelle der Fähre. Kyle geht noch ein paar Meter mit mir, dann trennen wir uns wieder: Er will Ausschau nach Rainer halten, der in einer Bar auf ihn warten wollte. Ich habe einen Supermarkt erspäht und will meine Essensvorräte auffüllen. Als ich nach dem Einkauf wieder ins Freie trete, wende ich mich nach links und laufe in Richtung Fähranleger. Ich durchschreite eine kleine, palmenbewachsene Parkanlage – und sehe in der Ferne das Boot näherkommen. Eigentlich habe ich keine Eile, denn die Fähre überquert die Bucht alle 15 Minuten – dennoch sagt mir mein Bauchgefühl, ich sollte mich beeilen. Also lege ich einen Schritt zu – und stelle kurz darauf fest, was meinen Bauch zu der Meldung veranlasst hat: An der Anlegestelle sitzt Kyle – ohne Rainer.
Ich freue mich über das schnelle Wiedersehen. Gemein- sam besteigen wir das Boot, suchen uns einen Platz am Bug und bezahlen das Fährgeld. 2,65 Euro ist mal wieder ein echtes Schnäppchen – immerhin ist das Schiff fast eine halbe Stunde unterwegs. Ich biete Kyle die Hälfte meines Mittagessens an. Zunächst ziert er sich, aber Hunger hat er schon, schließlich ist der geplante Bar-Besuch ausgefallen. Kurz darauf knuspern wir ein belegtes Baguette, trinken Orangensaft und genießen die Überfahrt.
Kurz darauf bekommen wir noch eine kostenlose Zirkuseinlage: Der Poller am Bug, an dem das Boot mit einer Leine nach dem Anlegen festgezurrt wird, animiert einige junge Leute zum Unfugmachen. Eine junge Frau stellt sich mit einem Bein auf das Stück Eisen und spielt Galionsfigur. Dann streckt sie wie Kate Winslet in Titanic beide Arme aus. Eine gefährliche Sache, schließlich schlingert das Boot ganz schön durch die Wellen – und nur einen Meter neben dem Poller rauscht das Wasser vorbei. Doch der Kapitän und der Matrose scheinen sich nichts dabei zu denken – sie sehen dem Treiben mit einem Grinsen im Gesicht zu.
In Santander verlassen wir an der Anlegestelle das Boot. Direkt daneben gebärdet sich ein älterer, bärtiger und zottelhaariger Mann wie rasend: Nur mit einer Schlabberhose und einem Unterhemd bekleidet, brüllt er wie ein Endzeitprediger irgendwelche spanischen Sätze in Richtung der Touristen. Um seine Aussagen zu untermalen, spritzt er mit beiden Händen Meerwasser herum – und macht sich selbst dabei am meisten nass. Viele Touristen haben ihre Handys gezückt und filmen den Zornesausbruch des Mannes mit dem Noahbart. Mir dagegen tut der Mann leid. Kurz überlege ich, ob er Hilfe braucht. Aber dann ist es mir doch zu gefährlich, sich dem Unbändigen zu nähern – am Ende lande ich noch selbst im Hafenbecken…
Wieder in Santander zu sein, ist seltsam. Irgendwie fühlt es sich wie Heimkommen an. Verrückt, denke ich: Vier Stunden hat es gedauert, von Santander mit dem Bus nach Irun, dem Startpunkt meiner Pilgerreise, zu fahren. Zwei Wochen habe ich gebraucht, um zu Fuß hierher zurückzukehren. Die Stadt scheint mir so vertraut, obwohl ich Anfang des Monats gerade mal ein paar wenige Stunden hier verbracht habe. Ich sehe das Rathaus, die Kathedrale, die Uferpromenade – und habe fast das Gefühl, ein Bewohner dieser Stadt zu sein, der sich hier auskennt und sich hier zu Hause fühlt.
Kyle und ich machen uns auf den Weg. Ich verdeutliche ihm, dass ich bereits vor zwei Wochen hier war und deshalb kein Bedürfnis nach Sightseeing habe; wenn er also alleine weiterlaufen wolle, könne er das tun. Kyle will aber lieber bei mir bleiben, bittet nur darum, eine Apotheke aufsuchen zu können – er will sich eine antibiotische Salbe besorgen. Schnell hat er das Gesuchte gefunden, und wir gehen weiter.
Was ist das? Ich spüre plötzlich einen latent stechenden Schmerz in meinem linken Schienbein. Es ist genau die Stelle, an der der Physiotherapeut in Güemes gestern so lange herumgeschraubt hat. Sollte er etwas verschlimmbessert haben, oder hat er nur etwas offengelegt, was zuvor schon vorhanden war? Oder war das lange Laufen im Sand am Strand von Somo doch zu viel für die Beine? Ich beschließe, etwas langsamer zu laufen und den Schmerz zu beobachten. Schließlich habe ich heute noch rund neun Kilometer vor mir.
Bald darauf kommen wir an der Touristeninformation vor- bei. Wieder bittet Kyle mich zu warten; er will sich eine Karte der nächsten Camino-Etappen besorgen. Ich nutze die Gelegenheit, um gegenüber in eine Apotheke zu springen und eine Tube Arnika-Salbe zu kaufen. Der Schmerz ist immer noch da – und macht mir zunehmend Sorgen. Ich schmiere das linke Schienbein dick mit der Creme ein und humpele weiter neben Kyle her.
Als wir den Rathausplatz erreichen, treffe ich eine Entscheidung: Es macht keinen Sinn, weiterzugehen, bevor es meinem Bein nicht besser geht. Ich verabschiede mich also von Kyle und setze mich auf eine der zahlreichen Bänke. Erneut bekommt das Bein eine ordentliche Schicht Arnika-Spachtelmasse verpasst. Ich esse und trinke etwas und schaue dem Treiben auf dem innerstädtischen Platz zu. Nach einer halben Stunde stehe ich auf und teste das linke Gehwerkzeug. Mein Körper gibt keine Entwarnung. Damit steht fest: Die heutige Camino-Etappe ist zu Ende.
Da ich mir aber vorgenommen hatte, auf keinen Fall in der Spelunken-Herberge von Santander Station zu machen, und ich andererseits aber nicht schon wieder 30 Euro für ein Pensionsbett ausgeben möchte, beschließe ich, den restlichen Weg bis Santa Cruz-de-Bezana mit dem Bus zurückzulegen. Landschaftlich werde ich nichts verpassen, weiß ich dank meinem Führer. Der Weg raus aus der Stadt ist alles andere als reizvoll.
Ungefähr weiß ich noch die Richtung zum Busbahnhof, aber da ich mit meinem Bein keinen Umweg humpeln will, frage ich ein älteres Ehepaar nach dem Weg. Zwei Querstraßen weiter stehe ich vor dem mittlerweile bekannten Gebäude, in dem vor zwei Wochen mein Bus nach Irun abgefahren ist. Zunächst versuche ich mich anhand eines Liniennetzplanes in einem Schaukasten schlau zu machen – und stelle fest, dass kein Bus direkt nach Santa Cruz-de-Bezana fährt, wohl aber in die Nähe. Das muss dann noch gehen, denke ich. An der Information in der Busstation frage ich, wann der nächste Bus geht.
Eine Dame, die nicht gerade vor Arbeitseifer sprüht, druckt mir einen Fahrplan aus. Noch 20 Minuten warten, das müsste auszuhalten sein, denke ich, fahre mit der Rolltreppe ins Untergeschoss und setze mich vor der Haltestelle auf eine Bank. Ich nutze das freie Wlan, um die Familie zu informieren und wieder ein paar Bilder zu schicken. Als der Bus zur angegebenen Zeit noch nicht da ist, habe ich das leise Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist (von meinem Bein mal abgesehen). Ich kontrolliere noch einmal den Fahrplan – und stelle fest, dass ja heute Samstag ist und mein Bus nur werktags fährt. Auf dem Camino vergisst man nicht nur die Zeit, sondern auch den Kalender…
Der nächste Wochenend-Bus geht erst in 90 Minuten – das dauert mir zu lange. Ich erinnere mich daran, bei meiner Ankunft vor zwei Wochen auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Bahnhof gesehen zu haben. Vielleicht gibt es ja auch eine Zugverbindung. Kurz darauf stehe ich im Bahnhof vor einem weiteren Liniennetzplan. Bingo – ein Zug fährt direkt bis Santa Cruz-de-Bezana. Und ich muss „nur“ 30 Minuten warten. Ich suche mir eine Bar und setze mich an den Tresen.
Eine halbe Stunde und einen Kaffee später rollt der Zug in den Bahnhof ein. Der Waggon sieht eher aus wie eine S-Bahn, die Sitze sind einfach und nicht sehr bequem. Egal, ich will ja nicht mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren, sondern nur vier oder fünf Stationen aus der Stadt hinaus. Endlich rattert das Gefährt los, vorbei an Mietskasernen und Gewerbebauten. In der Ferne sehe ich die Hafenkräne und den Flughafen. Dann wird die Sicht aus dem Fenster schlechter – es hat begonnen zu regnen.
Als der Zug in Santa Cruz einfährt, hat der Himmel endgültig seine Schleusen geöffnet. Ich ziehe meinen Poncho über und klettere auf den Bahnsteig. Aus einem der hinteren Waggons steigen drei weitere Pilger aus. Ilona, Vicky und Nora ha- ben ebenfalls die letzten Kilometer bis hierher auf der Schiene zurückgelegt – offenbar nicht aus medizinischen Gründen, sondern wegen des Wetters. Gemeinsam versuchen wir den Weg zur Herberge zu finden. Am Bahnhof gibt es natürlich keine gelben Pfeile. Also schlagen wir den Weg zur Kirche ein, deren Turm ganz in der Nähe in den Himmel ragt. Sie liegt nämlich am Jakobsweg, wie mir der Führer erklärt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in die falsche Richtung laufen, wenn ich an die Wegbeschreibung zur Herberge in meinem Führer denke. Aber wir haben keine andere Wahl: Wenn wir uns nicht verlaufen wollen, müssen wir zur Kirche. Dort angekommen, finden wir tatsächlich gelbe Pfeile, darunter auch welche mit einem großen gelben „A“ für Albergue. Wie erwartet dürfen wir den Weg zurückgehen. Ich habe mich mittlerweile meiner Flip-Flops entledigt, damit sie im Regen nicht nass werden – meine Füße bekomme ich schneller trocken als die Schuhe.
Angesichts der Uhrzeit und der Tatsache, dass die Herberge nur 14 Betten hat, werde ich wieder ein wenig nervös. Mist, immer diese Panik, zu kurz zu kommen, denke ich. Ob die Albergue tatsächlich noch vier Betten für uns hat? Ich werde es gleich sehen. Sollte die Herberge completo sein, müsste ich entweder nach Santander zurück oder in Bezana in eine Pension, die allerdings auch nur wenige Betten hat.
Im mittlerweile strömenden Regen erreichen wir schließlich die Albergue. Sie liegt direkt an der Hauptstraße, die aber zumindest jetzt wenig befahren ist. Der Eingang befindet sich in einem riesigen Holztor. Als wir die Tür aufstoßen, gibt eine Glocke unsere Ankunft bekannt. Wir stehen in einem Flur, vor uns steht eine kleine Sitzbank, daneben geht es eine Treppe hinauf – bestimmt ist dort der Schlafsaal, denke ich. Rechts parkt ein Kleiderständer, an dem schon einige Regenjacken hängen – die ersten Pilger sind wir also nicht.
Aus einem angrenzenden Raum tritt mir eine Frau entgegen – das muss die Herbergswirtin sein. Ich bin verblüfft, dass sie mich mit meinem Vornamen begrüßt. Kann sie Gedanken lesen? Ich linse an ihr vorbei – und sehe auf dem Sofa Nicolas sitzen, den ich ebenfalls in Güemes kennengelernt habe. Aha, er hat ihr also meinen Namen verraten. Da wir nicht gleich wieder weggeschickt werden, scheinen noch genügend Betten frei zu sein. Ich setze erleichtert meinen Rucksack ab und nehme dankbar das Glas Wasser entgegen, das mir die Herbergswirtin – sie heißt Nieves – reicht. Verdutzt schaut sie auf meine nackten Füße. Ich erkläre ihr, dass ich so oft es geht barfuß unterwegs bin – erst recht bei diesem Wetter.
Dann zeigt sie uns die Herberge, die tatsächlich das Schönste ist, was ich bisher auf dem Camino gesehen habe. Sie und ihr Mann wohnen mit ihrem Sohn in den angrenzenden Räumen – eine Tür führt vom Aufenthaltsraum in die Privatgemächer. Der Löwenanteil des Hauses ist allerdings für die Pilger. Der Aufenthaltsraum ist urig eingerichtet: Es gibt eine Sofaecke, eine Standuhr, einen Kamin – und zahlreiche kuriose Dekorationselemente an der Wand, darunter einige afrikanische Masken. Die heimelige Küche lädt ebenfalls direkt dazu ein, an der langen, gemütlichen Tafel Platz zu nehmen – und sich von der Ritterrüstung bewachen zu lassen, die in der Ecke steht.
Die Sanitärräume sind sauber und funktional, es gibt ein riesiges Waschbecken, in dem man seine Pilgerklamotten säubern kann, und natürlich Duschen. In einer Ecke steht wieder so eine praktische Wäscheschleuder. Der Garten sieht ebenfalls einladend aus, ist aber heute wegen des Wetters tabu, wie Nieves verkündet.
Zahlreiche liebevolle Details runden das perfekte Ambiente ab: In einer Wandnische befindet sich ein gelber VW Käfer, auf dem Treppenabsatz steht eine alte Küchenwaage, im Aufent- haltsraum wartet neben dem Klavier ein Akkordeon auf musikalische Pilger, über dem Kamin prangt Mae West, von der Decke im Flur baumelt ein Kanu, und neben der Eingangstür parkt eine Vespa.
In einer Ecke des Aufenthaltsraums steht ein altes Fahrrad. Ich frage Nieves, ob das das Rad ist, dass der Amerikaner hier zurückgelassen hat. Sie ist nur kurz überrascht von dieser Frage, dann aber wird ihr klar, dass ich ihn wohl auf dem Weg getroffen habe. Nein, das sei ihr Fahrrad. Das Rad des Amerikaners stehe im Flur. In der Tat sehe ich dort den Drahtesel stehen.
Im Obergeschoss befindet sich tatsächlich der Schlafraum. Naturstein und Holz verbreiten Gemütlichkeit. Ich belege ein Bett und konsultiere anschließend die Nassräume. Danach lasse ich mich mit einer Cerveza aus dem Kühlschrank auf dem Sofa nieder. Aus dem Lautsprecher an der Wand kullert leise 70er-Jahre-Rock, zahlreiche Bücher warten darauf, gelesen zu werden.
Kaum zu glauben, dass der Pilger nicht verpflichtet wird, für diese paradiesische Herberge mindestens 15 Euro zu bezahlen.
Das Herbergspaar setzt dagegen – vielleicht aber auch aus steuerlichen Gründen – auf Spenden. Als Donativobox hängt ein eiserner Briefkasten an einem Türrahmen. Ich nehme mir vor, die Bemühungen von Nieves und José großzügig zu honorieren.
Nieves verkündet, dass es heute zum Abendessen Tortilla geben wird. Ich biete mich an, ihr beim Kochen zu helfen – ich wüsste zu gerne, wie man diese Leckerei zubereitet.
Ich beschließe, mich bei meiner Familie zu melden, die gerade auf einer Geburtstagsparty ist. Vielleicht kann ich sogar über Facetime mal wieder meine Lieben sehen. In der Herberge gibt es kein Wlan, deshalb schickt mich Nieves in die Bar auf der anderen Straßenseite. An der Theke bestelle ich einen Kaffee (ohne Kondensmilch) und frage nach dem Passwort für das Internet.
Während ich meinen Kaffee schlürfe, jage ich einige Fotos durchs Netz nach Hause. An einen Videochat ist dagegen nicht zu denken. Das liegt allerdings nicht an der Verbindungsqualität, sondern an der Männerrunde, die am Tisch neben mir Karten spielt. Der Lärmpegel ist unbeschreiblich: gute Laune mischt sich mit aufgeregten Zwischenrufen und dem Fernsehprogramm, das aus dem Flachbildschirm an der Wand tropft.
Ich versuche mein Glück in der hintersten Ecke der Bar, doch auch hier liegt der Schallpegel noch jenseits aller Facetime-Grenzwerte. Erst im Hof ist es ein wenig ruhiger, dafür ist hier das Wlan-Signal schlechter. Ich probiere es trotzdem – und kann dann tatsächlich einige Minuten mit der Family quatschen, bevor mich der Akku des iPhones im Stich lässt.
Zurück in der Herberge, chillen wir gemeinsam bei einer weiteren Cerveza in der Sofaecke. Weitere Pilger treffen ein, und irgendwann hängt Nieves ein „Completo“-Schild an das große Holztor. Später frage ich José, wann ich denn bei der Abendessens-Zubereitung helfen darf. Er winkt mir wortlos mitzukommen und führt mich in die heiligen Hallen der Familie. Der Sohn lungert im Wohnzimmer vor dem Fernseher, Nieves steht in ihrer eigenen kleinen Küche und brutzelt am Herd. Ich bin überrascht, eigentlich hatte ich erwartet, dass sie die Küche im Pilgerbereich des Hauses nutzt.
Den Salat hat sie schon fertig, ebenfalls die Vorspeise: Im Ofen gebackener Ziegenkäse, garniert mit einem roten Klecks. Das sei kein Ketchup, wie manche Pilger immer wieder annehmen, klärt sie mich auf, sondern Erdbeermarmelade. Gerade ist sie dabei, den Tortilla-Teig in die Pfanne zu füllen. Ich lasse mich über die Zutaten aufklären und schaue interessiert zu, wie Nieves den Kartoffelkuchen mit einem Topfdeckel wendet. Ob zwei Tortillas für alle Pilger reichen? Ich werde es erleben…
Später schieben wir in der Pilgerküche zwei lange Tische zu einer großen Tafel zusammen. Einige Pilger helfen beim Tischdecken, kritisch beäugt von Ritter Rost in der Ecke. Dann kann es losgehen: Das Herbergsehepaar sitzt nicht mit am Tisch, sondern hält sich diskret im Hintergrund. Das Essen schmeckt köstlich, der Vino tinto auch. Bei netten Gesprächen vergeht die Zeit wie im Flug. Ich staune darüber, wie sättigend die Tortilla ist. Obwohl wir alle kräftig reingehauen haben, sind noch einige Stücke übrig.
Nach dem Essen treffen wir uns alle noch einmal, um die Uhrzeit für das gemeinsame Frühstück abzustimmen. Dann erklärt uns Nieves anhand einiger selbst angefertigter Zeichnungen den Weg des morgigen Tages. Da nicht alle Pilger Englisch sprechen, gibt Nieves ihre Erläuterungen auf Französisch ab. Ich bin überrascht, wie viel ich mit meinen zwei Jahren Schulfranzösisch verstehe. Noch überraschter bin ich aber, wie perfekt Nieves Französisch spricht. Ich frage sie später, ob sie keine Spanierin, sondern Französin ist (der Vorname klingt für mich auch nicht typisch spanisch). Sie entgegnet, sie sei Spanierin, habe aber lange Zeit in Frankreich gelebt.
Morgen wartet der verbotene Weg über die ominöse Eisenbahnbrücke auf uns, von der ich schon im Führer und auch in diversen Internetblogs gelesen habe. Der Pilger, der auf der Brücke den Fluss Pas überquert, spart 7 Kilometer gegenüber dem regulären Weg. Allerdings ist der Fußgängerweg neben den Gleisen recht schmal – und das Überqueren der Brücke ein Wagnis.
Nieves unterbreitet uns die Alternativen: Wir können vor der Brücke warten, bis der nächste Zug vorbeigekommen ist (was aber 20 Minuten dauern kann), und dann die Brücke gefahrlos, aber dennoch verbotenerweise überqueren. Diese Variante wird von ihr verständlicherweise nicht empfohlen, schließlich will sie nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn etwas passiert. Sie schlägt vor, zwischen Poo und Mogro 1,7 Kilometer mit dem Zug über die Brücke zu fahren. Pilger würden oft sogar kostenlos befördert, allerdings müsse man im ungünstigsten Fall einige Wartezeit einkalkulieren.
Dann blickt Nieves ein paar Tage voraus, gibt Tipps für den weiteren Weg nach Santillana, Comillas und Llanes und legt uns schließlich (nun wieder auf Englisch) ans Herz, unbedingt in der Herberge von Pendueles zu übernachten: „They have the same spirit“, strahlt sie. Apropos Spirit: An der Wand habe ich ein Foto von Nieves und José gemeinsam mit Padre Ernesto entdeckt. Jakobsweg-Förderer unter sich…
Draußen ist es schon dunkel, die meisten Pilger liegen schon in den Federn, als ich mich auch auf den Weg ins Obergeschoss mache. Oben angekommen, ruft mich Nicolas ans Fenster: Der Regen, der schon den ganzen Abend auf die Herberge niederprasselte, ist nun zu einem veritablen Gewittersturm mutiert. Es schüttet wie aus Eimern, das Wasser läuft in Sturzbächen die Hauptstraße hinunter. Beeindruckt von der Naturgewalt versuchen wir ein paar Fotos zu machen, als wir plötzlich hören, dass es im Erdgeschoss wieder betriebsam wird.
Wir gehen die Treppe hinab – und sehen die Bescherung: Das Regenwasser hat sich unter dem Hoftor hindurchgedrückt und beginnt, das ganze Erdgeschoss zu überschwemmen. Auch die Lappen, die Nieves und José an die Schwelle gelegt haben, können daran nichts ändern. Während die Herbergseltern mit Putzwedeln gegen die Wasserflut ankämpfen, lasse ich mir vom Junior des Hauses einen Lappen geben. Er reicht mir ein Mikrofaserhandtuch, das wohl ein Pilger hier mal hängengelassen hat. Unzählige Male wringe ich den Lappen über einem Plastikeimer aus.
Während draußen der Gewittersturm weiter wütet, können wir verhindern, dass das Wasser weiter vordringt. Schließlich rücken wir im Aufenthaltsraum noch einige Möbel von den Wänden und legen die Pfützen dahinter trocken. Nach einer halben Stunde ist es geschafft – das Erdgeschoss ist wieder trocken. Dankbar schaut Nieves uns in die Augen – und wir sind froh, dass wir durch unseren Einsatz ein wenig von dem zurückgeben können, was Nieves und José uns und den anderen Pilgern durch ihr Engagement gegeben haben.
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte