Tag 19: Von San Vicente de la Barquera nach Pendueles (27 Kilometer)
Soll ich oder soll ich nicht? Diese Frage geht mir seit Stunden nicht mehr aus dem Kopf. Noch drei Tage habe ich Zeit auf meinem ersten Camino, bevor ich mich auf den Rückweg nach Santander machen muss. Eigentlich hatte ich geplant, auf dem Küstenweg so lange zu laufen, wie ich komme, und dann den Jakobsweg in Richtung Heimat zu verlassen. Doch der Abstecher nach Santo Toribio de Liébana reizt mich immer noch. Das Kloster in den Picos de Europa, in dem die größte Reliquie des Kreuzes Christi aufbewahrt wird, wäre ein würdiger Schlusspunkt für meinen Drei-Wochen-Camino, wenn ich dieses Jahr schon nicht nach Santiago de Compostela komme.
Die Wegbeschreibung nach Santo Toribio, die ich gestern beim Verlag des Reiseführers angefordert habe, ist heute morgen auf meinem iPhone eingetrudelt. Prompte Lieferung, ich bin beeindruckt. Was also hindert mich, den 55 Kilometer langen Weg in die „bizarre Bergwelt“ – so ist im Führer zu lesen – anzutreten? Ich kämpfe den ganzen Morgen mit mir – und entscheide mich dann, weiter an der Küste entlangzugehen. Für einen Marsch durch die Berge bin ich einfach nicht ausgerüstet – ich habe nicht einmal Socken dabei, von festen Schuhen einmal ganz abgesehen. Zudem kann sich der Wetterbericht nicht entscheiden – die Vorhersage schwankt zwischen schön und wechselhaft. Die Aussicht, bei zehn Grad und Nebel auf einem Berggipfel vor Kälte zu schnattern, ist nicht gerade verlockend.
Darüber hinaus müsste ich auf dem Weg auf die Gesellschaft meiner Camino-Familie verzichten – den Pilgern, die ich auf dem Weg kennengelernt habe und die mir ans Herz gewachsen sind. Vielleicht ist ja ein Abstecher nach Santo Toribio drin, wenn ich in zweieinhalb Jahren mit meinem Schatz hierher zurückkehre, um den Jakobsweg fortzusetzen.
Nachdem ich in der Herberge „El Galeon“ ebenso unsanft wie zeitig aus dem Bett geworfen worden bin („Aufstehen! Frühstück!“), ist klar, dass ich heute früh auf die Piste gehen werde. Eigentlich keine schlechte Sache, auch wenn ich gerne noch ein wenig länger geruht hätte: Schließlich wartet heute mit 27 Kilometern eine ziemlich lange Etappe auf mich; zudem bin ich ganz froh, diese in Sachen Gastlichkeit ambivalente Herberge bald hinter mir lassen zu können.
Am langen Tisch unter den vielen Fotos mit den fröhlichen Pilgern muffeln die aktuellen Camino-Jünger ihre Toastscheiben mit Marmelade. Ich genehmige mir noch einen Kräutertee und mache mich dann auf den Weg.
Heute werde ich Kantabrien verlassen und Asturien betreten – die dritte spanische Provinz auf meinem Weg (auch wenn mir die Basken jetzt wohl heftig widersprechen würden). Die ersten 15 Kilometer werden landschaftlich wohl nicht so prickelnd werden, wenn ich die Beschreibung im Führer betrachte. Doch die zweite Hälfte des Tages wird mich sicher reichlich entschädigen, wenn ich wieder die Küste erreiche.
Rund 1,5 Kilometer geht es bergauf raus aus San Vicente de la Barquera. Ich überquere die Autobahn und biege dann auf eine kleine Asphaltpiste ab. Es geht steil den Berg hinauf, bis ich nach einem weiteren Kilometer eine Kapelle erreiche. Unterwegs treffe ich kurz Nicolas, mache dann aber an der Kapelle eine kurze Pause. Die Sonne hämmert ganz schön vom Himmel, ich will meiner Haut eine Schicht Sonnencreme gönnen und auf die kurze Hose umsteigen. Ich nutze zudem die Gelegenheit, meinen Rucksack ein wenig leichter zu machen, indem ich die letzten Kekse in meinen Magen rutschen lasse.
Nach der Kapelle stapfe ich wieder bergab, bis ich auf einer Landstraße nach Hortigal komme. Ein letztes Mal kommt meine Entscheidung in Sachen Santo Toribio ins Wanken, als ich an einer Bushaltestelle den Abzweig zum Pilgerweg in die Berge entdecke. Ich gebe mir einen Ruck und folge weiter den gelben Pfeilen in Richtung Estrada. Hier stoße ich auf Ilona, die ein wenig vor mir gestartet, aber etwas gemächlicher unterwegs ist. Wir gehen ein Stück Weg zusammen und plaudern. Der Camino führt an der Hauptstraße entlang; Bäume am Straßenrand spenden ein wenig Schatten.
Während ich nach der kleinen Burgruine Torre de Estrada Ausschau halte, von der im Führer die Rede ist, melden sich meine Füße. Ihnen gefällt es heute irgendwie nicht so gut, in der Sonne auf dem Asphalt durchgeknetet zu werden. Ich halte an und greife auf einer Bank zum Tape. Hinter mir entdecke ich einen Steinhaufen: ob das die Reste des Estrada-Turmes sind? Sind sie nicht, wie ich kurz darauf feststelle. Nur zwei Wegbiegungen weiter steht der richtige Torre. Leider ist von dem Bauwerk kaum etwas zu sehen, weil es von einer weißen Plane eingehüllt ist. Vermutlich wird die Ruine gerade restauriert.
Kurz darauf erreiche ich Serdio. Es geht durch den Ort und weiter auf der Straße an einem Steinbruch vorbei. Danach darf ich ein kurzes Stück durch den Wald gehen – eine Wohltat nach dem Asphalt-Festival vom Vormittag. Ich drehe mich um: Von Ilona ist weit und breit nichts mehr zu sehen, dafür entdecke ich ein gutes Stück hinter mir eine alte Frau. Ich erkenne sie sofort wieder: Das ist die Ungarin, die mit mir in San Vicente de la Barquera übernachtet hat – und dort für einiges Aufsehen gesorgt hat. Die Pilgerin ist laut Gästebuch über 70 Jahre alt und hat sich auf den Camino gemacht, ohne auch nur eine einzige Fremdsprache zu sprechen. Und da das Ungarisch vieler Spanier ein wenig eingerostet ist (wie meines auch), verständigt sie sich mit Händen und Füßen. Bewundernswert? Mutig? Oder verrückt? Der Grat ist schmal…
Zwischen Muñorrodero und Pesués soll ich laut Führer eine Brücke unterqueren – „durch die rechte Fußgängerunterführung“, wie es in meinem Buch heißt. Als ich vor dem Bauwerk stehe, ist mir nicht ganz klar, welcher Weg der richtige ist. Normalerweise wäre ich einfach geradeaus weitergelaufen, aber ich soll mich ja rechts halten. Also gehe ich rechts unter der Brücke hindurch und einen Hügel hinauf – und finde mich bald darauf auf einem Bahnsteig wieder. Der Weg geht hier definitiv nicht weiter. Unten im Tal sehe ich die Brücke über den Ria del Tina Menor – da muss ich rüber.
Also mache ich kehrt – und begegne kurz darauf erneut der Ungarin. Eines muss man ihr lassen: Sie ist gut zu Fuß. Ich rufe ihr zu, dass der Weg der falsche ist, doch sie lässt sich von meinen Worten nicht beirren und geht an mir vorbei weiter in Richtung Bahnstation. Tröstlich, dass ich nicht der einzige bin, der unten an der Fußgängerunterführung falsch abgebogen ist…
Schließlich erreiche ich die Brücke, überquere den Fluss und gehe hinter einem Gasthaus bergauf in den Wald. Der Waldweg spuckt mich bald darauf wieder aus. Ich durchquere den Ortsrand von Pesués und komme bald darauf wieder in den Wald. Der Weg führt an einer Bahnlinie entlang und ist ziemlich steinig und uneben – als hätte hier eine Horde Tiere den Boden umgepflügt, schießt mir durch den Kopf. Nach knapp zwei Kilometern treffe ich auf eine Landstraße und erreiche die ersten Häuser von Unquera, die letzte Ortschaft Kantabriens. Das Dorf (oder ist es eine kleine Stadt?) ist belebt; überall sind Menschen auf den Straßen, auch die Bars und Cafés sind gut gefüllt.
Auf der Straße rauscht der Verkehr vorbei, zahlreiche Lastwagen sind darunter. Rechts von der Straße befindet sich ein kleiner Park, durch den ich nun barfuß schlendere. Einige Steinskulpturen stehen dort, auch einige Bänke. Auf einer der Bänke sitzt eine junge Pilgerin – kurze Hosen, Hut und Trekkingstöcke – und ruht sich ein wenig aus. Ich wünsche „Bon Camino“ und gehe weiter. Soll ich hier in einer Bar etwas essen oder doch wieder in einem Laden mein Pilger-Mittagsmenü zusammenstellen? Eigentlich ist mir die Stadt ja zu laut; netter fände ich es, an der kleinen Kapelle bei Colombres Rast zu machen, von der sich in meinem Führer ein Foto findet.
Ich beschließe weiterzugehen, kaufe mir aber zuvor in einem Laden ein paar Bananen. An einer Kreuzung schicken mich die Pfeile nach rechts auf eine Brücke. Kurz bleibe ich stehen, schaue in die sprudelnden Wasserfluten des Deva, und gehe dann auf die andere Seite. Ich bin jetzt in Asturien. Den Ort Bustio lasse ich rechts liegen und stapfe auf einem schön gepflasterten Weg den Hügel hinauf. Kurz darauf erreiche ich einen Hochseilgarten, in dem sich unter großem Hallo eine Jugendgruppe tummelt. Einige Kinder winken mir zu, als ich an ihnen vorbeilaufe.
An einem kleinen Rastplatz fülle ich meine Flasche auf und verdrücke zwei Bananen. Dann komme ich an der kleinen Kapelle vorbei, mache ein paar Fotos und gehe weiter – ich glaube, ich werde diesmal in einer Bar einkehren. Die ersten Häuser von Colombres kommen in Sicht. Auf der linken Seite steht auf einer Wiese ein großes weißes Zelt – darin übt sich eine weitere Gruppe Jugendlicher gerade im Bogenschießen. Ein paar Schritte weiter finde ich auf der rechten Seite die touristische Herberge des Ortes. Das charakteristische blaue Gebäude ist ebenfalls von Jugendlichen bevölkert – offenbar findet hier eine Freizeit statt.
An der nächsten Straßengabelung schlage ich den linken Weg ein, der zum Dorfplatz führt. Mein Buch empfiehlt mir den rechten Weg, ich will aber einen kurzen Blick auf die Kirche werfen, deren Turm ich schon von weitem gesehen habe. Einen Blick in die Kirche hinein verwehrt mir mal wieder die verrammelte Pforte.
Gegenüber der Kirche befindet sich eine Bar. Mein Magen meldet sich – eigentlich könnte ich ja hier rasten. Ich setze mich auf einen der Plastikstühle und schieße ein paar Fotos von Dorfplatz und Kirche. Ein Foto schicke in in die Heimat – als Bilder- rätsel für meine pfälzischen Pilgerfreunde. Ob sie wissen, wo ich mich gerade befinde? Die Antwort kommt postwendend: Auf dem Dorfplatz in Colombres. Volltreffer! Kompliment!
Ich lasse ein wenig meine Gedanken schweifen und überlege, wo ich heute die Etappe enden lassen soll. Die zuhause angefertigte Planung sah vor, die Herberge Santa Marina in Buelna anzusteuern. Doch in Santa Cruz de Bezana wurde mir ja die Herberge Aves de Paso in Pendueles empfohlen. Der Gedanke, den „Spirit“ von Nieves und José noch einmal zu erleben, ist verlockend. Allerdings hat die Herberge in Pendules nur wenige Betten, und die beiden anderen Übernachtungsmöglichkeiten in dem kleinen Ort klingen nicht so verheißungsvoll.
Wenn aber die Herberge in Pendueles belegt sein sollte und ich nicht in einer der beiden anderen Pensionen nächtigen möchte, müsste ich nach Buelna zurücklaufen. Da kommt mir das Pilgerpärchen aus Bochum in den Sinn, das ich vor Laredo getroffen hatte. Sie hatten telefonisch reserviert; vielleicht ist das ja auch in Pendueles möglich. Ich greife zum iPhone und wähle die im Führer angegebene Nummer. Tatsächlich meldet sich ein junger Mann: das muss Pilgerfreund Javier sein, von dem im Buch die Rede ist. Ich melde meine Ankunft und erfahre, dass bis 16 Uhr ein Bett für mich reserviert ist. Uff, das wäre geschafft…
Da wieder mal keine Bedienung kommt, muss ich wohl nach drinnen, um meine Bestellung aufzugeben. Ein wenig mulmig ist mir, meinen Rucksack auf einem der Plastikstühle zurückzulassen, allerdings finde ich es genauso wenig prickelnd, mich mitsamt Gepäck in die enge Bar zu drücken. Ich bestelle einen Kaffee und ein Bocadillo und gehe wieder nach draußen. Die Bar liegt zwar direkt an der Straße, dennoch ist es hier wesentlich ruhiger als noch in Unquera.
Und die Bewohner des Ortes machen auf mich einen entschleunigten Eindruck. Hektik scheint es hier nicht zu geben. Die Stühle vor der Bar füllen sich langsam, es wird palavert und gegessen.
Ein Mann fragt mich in gebrochenem Englisch aus, was ich hier tue und woher ich komme. Dann bekomme ich mein Bocadillo gebracht. Während ich am Kauen bin, taucht die junge Frau auf, die ich in der Parkanlage in Unquera gesehen habe.
Sie verweilt einen Augenblick bei mir und berichtet empört, dass sie auf der Bank von einem Spanier belästigt wurde. Wir tauschen uns ein wenig über den besten Weg raus aus dem Ort aus (der gelbe Führer empfiehlt eine andere Route als der rote Führer), dann macht sie sich wieder auf den Weg.
Ich esse meinen Teller leer und genieße den Espresso. Als ich aufstehe, um in der Bar meine Rechnung zu begleichen, stelle ich fest, dass die junge Pilgerin ihre Trekkingstöcke an meinem Tisch vergessen hat. Was tun? Nach Murphy’s Law kann ich es jetzt nur verkehrt machen: Wenn ich sie mitnehme, kehrt sie vielleicht zur Bar zurück und findet ihre Stöcke nicht. Wenn ich sie stehenlasse, bemerkt sie den Verlust zu spät und muss dann den ganzen Weg zurück.
Ich entscheide mich, die Stöcke mitzunehmen in der Hoffnung, die junge Frau bald wiederzutreffen. Erschwert wird die Sache durch die Tatsache, dass sie die „rote Route“ genommen hat und ich nicht genau weiß, wann die beiden Wege wieder aufeinandertreffen. Ich zahle schnell, schultere meinen Rucksack, schnappe mir die Stöcke und mache mich auf den Weg.
Am Ortsausgang halte ich Ausschau nach der Besitzerin der Stöcke – und habe Glück: Ein paar hundert Meter neben mir sehe ich die junge Frau durch die Felder stapfen. Ich rufe laut und schwenke die Stöcke – was auf dem Nachbarweg nicht unbemerkt bleibt: Die Pilgerin bleibt stehen, schaut zu mir rüber, macht dann kehrt und kommt den Hügel hinunter zu mir. Freudestrahlend nimmt sie ihre Gehhilfen entgegen. Dann setzen wir den Weg gemeinsam fort.
Tanja ist aus Deutschland und legt mit ihren beiden Trek- kingstöcken ein ordentliches Tempo vor. Sie erzählt mir von ihren Plänen, einen sozialen Beruf zu erlernen, ich berichte von meinem Job und meiner Familie. Das Gespräch ist nett und anregend – und die Ablenkung ist auf diesem Teil des Camino auch hochwillkommen. Denn hinter dem Ort El Peral verläuft der Camino über die alte Nationalstraße. Zunächst rauschen zahlreiche Lastwagen an uns vorbei und bescheren uns mehr als einmal eine veritable Staubdusche. An einer Großbaustelle biegt der Verkehr auf die neugebaute Landstraße ab, und die Pfeile schicken uns auf der alten, stillgelegten Trasse weiter.
Wir haben nun die Straße ganz für uns alleine. Die Laster brettern in einiger Entfernung an uns vorbei, staubig ist es trotzdem noch – und heiß obendrein. Die Sonne zeigt heute wieder, was sie kann, und lässt uns den Schweiß in Strömen von der Stirn rinnen.
Hinter La Franca wird der Weg wieder ein wenig manierlicher. Und irgendwann kommt auch wieder das Meer in Sicht. Mir geht das Herz auf. Der unschöne Streckenabschnitt ist geschafft, jetzt wartet ein schöner Küstenwanderweg auf uns. Tanja allerdings weiß gar nichts von dem sehenswerten Umweg, denn in ihrem roten Buch ist die Alternativroute mal wieder nicht verzeichnet. Nicht zum ersten Mal bin ich froh, mich für den Outdoor-Führer entschieden zu haben. Ich zeige Tanja die Alternativroute, und dann überqueren wir gemeinsam die Hauptstraße und schlagen den Weg in Richtung Meer ein.
Wir überqueren die Bahngleise und klettern über eines der kuriosen Viehgatter, die ich zum ersten Mal auf dem Jaizkibel gesehen habe. Der sandige Pfad, der zwischen Bodendeckern hindurchführt, lädt wieder zum Barfußgehen ein. Rechts und links von uns weiden Schafe und Ziegen. Dann erreichen wir den Atlantik. Ich schieße ein Foto nach dem anderen und freue mich über die herrliche Landschaft. Auch Tanja zückt den Fotoapparat und knipst, bleibt dann aber stehen und tippt auf dem Gerät herum. Auf Nachfrage erfahre ich, dass sie nur eine einzige, knapp bemessene Speicherkarte dabei hat. Die ist nun voll, deshalb hat sie damit begonnen, einzelne Fotos zu löschen. Ich leihe ihr eine von meinen Karten und bitte sie, mir diese später mit der Post zurückzuschicken.
Weil ich immer wieder stehenbleibe, um Fotos zu machen, ist Tanja schnell einige Meter voraus. Der Abstand vergrößert sich weiter, nachdem ich einige Minuten damit zugebracht habe, mit meiner Pinzette einen kleinen Dorn aus der Fußsohle zu ziehen – wer barfuß unterwegs sein will, muss ab und zu auch mal leiden.
Der Weg ist zwar kaum ausgeschildert bzw. ausgepfeilt, aber die Orientierung fällt trotzdem leicht, denn es geht immer an der Küste entlang nach Westen. Bald darauf erreichen wir die berühmten Bufones de arenillas, die sich heute allerdings reichlich unspektakulär präsentieren. Bei schwerem Wellengang kann der Pilger hier den Wind durch den verkarsteten Felsenboden fauchen und brüllen hören. Heute aber ist die See spiegelglatt, und deshalb bleiben die Bufones stumm. Was ich aber gar nicht schlimm finde, denn das schöne Wetter ist mir lieber.
Tanja ist mittlerweile nicht mehr zu sehen. Ich bin nicht un- glücklich darüber, alleine zu sein, habe aber ein schlechtes Gewissen, weil Tanja nun den Weg ohne mein Buch finden muss. Ich klettere über einige weitere Viehgatter – und stehe plötzlich vor einer Kuhherde, die sich auf dem Pfad breitgemacht hat. Jetzt heißt es Obacht geben, denn ein Bulle beäugt mich bereits misstrauisch, auch wenn ich sicher nicht der erste Pilger bin, der heute hier entlanggekommen ist. Ich schlage einen Bogen um die Tiere herum und halte dann Ausschau nach der Tropfsteinhöhle, die mein Führer anpreist.
Noch immer bin ich am Überlegen, wie ich die restlichen Etappen meines Camino gestalten soll. Ich bin weiterhin einen Tag im Plus. Eigentlich hatte ich geplant, auf jeden Fall morgen bis Llanes zu laufen und erst dann zu überlegen, wie ich den „überschüssigen“ Pilgertag zubringen soll. Doch als ich die wunderschönen Buchten entdecke, die das Meer in die Steilküste gegraben hat, gerät dieser Entschluss ins Wanken. Ich könnte ja auch in Buelna übernachten, dann einen Tag faul an einer der grandiosen Strände liegen und am nächsten Tag in Pendueles einchecken. Das wäre ein Caminotag mit gigantischen 2,3 Kilo- metern Wegstrecke.
Dagegen spricht, dass ich mich schon bei Javier angemeldet habe. Was, wenn er schon andere Pilger weggeschickt hat, weil er mein Bett freihalten will? Und wie passt so ein Lazy Day zu meinem Pilgerdasein und dem „Ultreia“? Ich überlege noch einen Augenblick und entscheide mich dann, Buelna und die wunderschönen Buchten rechts bzw. links liegen zu lassen und wie vorgesehen bis Pendueles weiterzugehen.
Von Tanja ist weiterhin weit und breit nichts zu sehen. Ob sie die Tropfsteinhöhle auch gefunden hat? Vielleicht ist davon im roten Buch auch keine Rede. Ich betrete einen verträumten Pfad und halte weiter die Augen offen – die Höhle will ich auf keinen Fall verpassen. 30 Meter abseits des Weges soll sie liegen, und versteckt soll sie sein, erzählt mir der Führer. Als ich schon befürchte, vorbeigelaufen zu sein, entdecke ich einen Trampelpfad, der zu einem von Bäumen umstandenen Felsen führt.
Kurz darauf stehe ich tatsächlich am Eingang der Höhle. Ich bin nicht allein: ein Touristenpärchen stapft ebenfalls herum und macht Fotos. Ich taste mich barfuß vorsichtig weiter, überquere einen kleinen Bach und betrete die Höhle. Der Anblick ist atemberaubend: Die Stalaktiten sind nicht nur groß, sondern schillern auch in verschiedenen Farben. Ich zücke den Fotoapparat und versuche die Szenerie festzuhalten, was angesichts der Lichtverhältnisse gar nicht so einfach ist. Weiter ins Innere der Höhle wage ich mich nicht – der Boden ist einfach zu glitschig. Einen Sturz will ich nicht riskieren.
Ich drehe also um – und lasse mir von dem Touristen noch über eine rutschige Stelle helfen. Dann betrete ich wieder den Camino (beziehungsweise die Alternativroute) und lasse bald darauf Buelna links liegen. Auf dem Weg nach Pendueles bleibt mir mindestens zweimal vor Staunen der Mund offen stehen: Was finden sich hier nur für grandiose Buchten… Mit dem Sandstrand, dem türkisfarbenen Wasser und den grünbewachsenen Felsen im Meer fühle ich mich an südlichere Gefilde erinnert. Kurz gerät mein Entschluss noch einmal ins Wanken. Hier einen Tag abhängen…
Doch dann gebe ich mir einen Ruck: Javier wartet auf mich. Ich erreiche die ersten Häuser von Pendueles und staune über eine endlos lange Mauer, die ein riesiges Anwesen einfasst. In der Ferne sehe ich einen verfallenen Adelspalast stehen – auch dieser Ort scheint eine bewegte Vergangenheit zu haben. Bald darauf stehe ich schweißgebadet, aber glücklich vor der Herberge. Ein paar Pilger haben es sich bereits auf den Holzbänken vor dem rustikalen Bruchsteinhaus mitten im Dorf bequem gemacht.
Ich betrete den Aufenthaltsraum im Erdgeschoss. Unwillkür- lich ducke ich mich: die Decke aus dunklen Holzbalken hängt tief und macht den Raum ein wenig dunkel. In starkem Kon- trast dazu stehen die zahlreichen Fanschals von europäischen Fußball- und Eishockeyclubs, die an den Balken befestigt sind. Die habe er von Pilgern geschenkt bekommen, erklärt mir Javier, der wie ein Barkeeper hinter dem Tresen seiner offenen Küche steht. Dann zeigt er mir das Haus: eine Treppe führt nach oben in den Schlafraum. Ich stelle fest: die Herberge ist tatsächlich ähnlich gemütlich wie die in Santa Cruz de Bezana, und Javier ist ähnlich nett und hilfsbereit wie Nieves und José.
Nach dem Duschen nimmt Javier meine Wäsche entgegen und erklärt mir, dass er heute Abend für die Pilger kochen wird. Leider gibt es keine Cerveza in der Herberge, weshalb ich mir etwas Nachschub in einem nahen Lädchen besorge. Als ich zur Herberge zurückkehre, ist auch Tanja eingetroffen. Bei einem Bierchen erzählt sie mir, dass sie die Tropfsteinhöhle ebenfalls gefunden hat. Wir vernichten gemeinsam noch ein paar Kekse und etwas Schokolade und machen uns dann auf den Weg zum Meer.
Nach wenigen Minuten Fußweg stehen wir am Scheitelpunkt einer kleinen Bucht; nicht ganz so schön wie die Buchten bei Buelna, aber ausreichend schön, um ein wenig Zeit dort zu verbringen. Wir klettern einen schmalen Pfad nach unten und stehen dann auf dem Kies, der den Boden zwischen Felswand und Meer bedeckt. Im Wasser thront wieder ein imposanter Felsen, Wasservögel fliegen durch die Luft. Einige andere Pilger sind ebenfalls hier, darunter auch einige bekannte Gesichter wie Vicky und Nora.
Ich suche mir ein gemütliches Plätzchen, schaue aufs Meer hinaus und lasse die Seele baumeln. Eigentlich wäre jetzt Gelegenheit, endlich mal ins Wasser zu springen, aber ich habe meine Badehose nicht mitgenommen. Erst als die anderen Pilger alle zur Herberge zurückgegangen sind, schlägt meine Stunde – ich lasse meine Klamotten am Strand zurück und stürze mich in die Fluten…
Als ich zur Herberge zurückkomme, hat Javier schon mit dem Kochen begonnen. Weitere Betten sind belegt, ich sehe zahlreiche neue Gesichter. In der Abendsonne vor dem Gebäude zücke ich mein iPhone und facetime mit der Family. Dann verschicke ich noch ein paar Bilder, bevor Javier zum Abendessen ruft.
Das Menü ist einfach, aber lecker und sättigend. Zunächst gibt es eine Gemüsesuppe, danach serviert Javier uns einen Nudelsalat und später Obst zum Nachtisch. Ich unterhalte mich nett mit meinem Gegenüber, einem englischen Journalisten, der schon einige Fachbücher über den Genozid in Ruanda geschrieben hat.
Nach dem Essen verziehen sich die meisten Pilger zügig in Richtung Schlafraum. Ich warte nicht, bis Javier um 22 Uhr die Tür abschließt und Feierabend macht, sondern tue es ihnen gleich und krieche in meinen Schlafsack: es war ein langer Tag.
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte