Tag 11: Von Pobeña nach Islares (24 Kilometer)
Die Nacht war kurz und ungemütlich. Eine ganze Heerschar von Mücken hat mich als Abendbuffet benutzt; das Jucken an den Fingern, die von zahlreichen Stichen geziert sind, hat mich kaum schlafen lassen. Zudem habe ich (m)ein Kissen vermisst; der Wäschesack, in den ich ein paar Kleidungsstücke gestopft hatte, taugt als Kissenersatz nur bedingt.
Zudem beginnt bereits um 6 Uhr das Kruscheln: die ersten Pilger packen ihre Siebensachen und machen sich auf den Weg. Eigentlich gehöre ich ja zur Camino-Langschläferfraktion, doch daran ist wohl nicht zu denken, wenn man im Frühstücksraum den Boden blockiert. Also schäle ich mich bald darauf auch aus dem Schlafsack und bitte meinen Zeigefinger, noch einmal Zahnbürste zu spielen – heute werde ich hoffentlich Ersatz finden. Meine linke Ferse schmerzt etwas. Ein Andenken an den gestrigen Gewaltmarsch. Ich beschließe, es heute langsam angehen zu lassen.
Als ich mir an der Küchenzeile einen Tee mache, stelle ich fest, dass Gabriela und Anne schon aufgebrochen sind. Ich trödele noch ein wenig vor mich hin, dann hinterlasse ich in der Kasse am Eingang der Herberge mein Donativo, bedanke mich noch einmal herzlich für die rettende Schlafgelegenheit und mache mich auch auf den Weg. Die Five-Fingers bleiben im Rucksack; ich entscheide mich dafür, in Flip-Flops weiterzulaufen – schließlich liegen die baskischen Berge fast hinter mir.
Zunächst ignoriere ich die Pfeile – ich will mir noch ein wenig die Reste mittelalterlicher Bausubstanz in Pobeña anschauen, von der ich in einem Flyer gelesen habe. Ich finde einige heruntergekommene Adelspaläste und eine überdachte Waschstelle. Zur sicher ebenfalls sehenswerten Kapelle ist es mir dann aber doch zu weit (und außerdem ist die bestimmt wieder geschlossen), schließlich wartet laut Führer zwischen Pobeña und Castro-Urdiales ein toller Panoramaweg auf mich.
Ich bin sehr gespannt auf Castro-Urdiales, die Hafenstadt mit dem charakteristischen Stadtbild: Auf einem Foto in meinem Führer kann ich sehen, dass eine ziemlich große Kirche direkt neben dem Leuchtturm am Hafen steht. Ein majestätischer Anblick – kein Wunder, dass die beiden Damen, mit denen ich nach Santander geflogen bin, dort ein paar Tage geblieben sind.
Auf einer Treppe geht es lange bergauf. Das Wetter kann sich noch nicht so richtig entscheiden, welche Laune es heute haben soll. Kalt ist es nicht, aber auch nicht gerade wolkenlos. Ich freue mich riesig, als ich vor mir den Ozean entdecke. Rechts liegt der Strand von La Arena, über den ich gestern mit Anne gelaufen bin. Bevor der Camino nach links abbiegt, kann ich an einem Aussichtspunkt noch einmal auf La Arena und Pobeña zurückblicken.
Dann gehe ich weiter – und bin kurz darauf restlos geplättet: Der Weg schlängelt sich malerisch direkt an der Küste entlang. Laut Führer ist es die ehemalige Trasse eines Transportzuges. Im Berg links neben mir muss sich ebenfalls eine Erzmine be- funden haben; das Erz wurde dann per Schiene bis zum Wasser gebracht und dort – wie schon in Zarautz – über ein Seilsystem auf das Schiff verladen. Auch hier sind noch Reste dieser Verladestation zu sehen.
Ich hänge meine Flip-Flops wieder an den Bauchgurt und gehe barfuß über eine Wiese bis zur Felskante. Unter mir rauscht das Meer. Was für ein erhebender Anblick. Ich schieße mindestens 50 Fotos, bleibe immer wieder stehen, um die Aussicht zu genießen, und lasse die Seele baumeln.
Kurz darauf entscheidet sich eine Herde von Kühen, die Weide zu wechseln, und betritt den Fußweg. Ich warte respektvoll, bis die Tiere um die nächste Ecke verschwunden sind – ich bin nicht scharf darauf, von einer Kuh auf den Fuß getreten zu bekommen. An verschiedenen Stellen des Weges finden sich Relikte des Erzabbaus: verrostete Ausstellungsstücke wie eine Stahlseil-Winde oder ein Anker. Ich schaue auf die Uhr: mehr als eine Stunde bin ich nun schon auf dem Panoramaweg unterwegs, der laut Führer gerade mal 1,6 Kilometer lang ist; und dabei bin ich gerade mal bei der Hälfte angekommen. Doch die „verplemperte“ Zeit ist gut angelegt – ich fühle mich erholt wie lange nicht und genieße den Weg in vollen Zügen.
Von hinten naht ein Trupp Soldaten: mit weit ausholenden Schritten marschieren sie an mir vorbei. Einige haben Kriegsbemalung angelegt: schwarze Streifen zieren ihre Wangen. Alle haben ihr Sturmgewehr in der Hand, ein Soldat trägt sogar ein Maschinengewehr auf seinen Schultern. Dazu gesellen sich Rucksäcke, die mindestens genauso groß sind wie meiner. Kaum sind sie an mir vorbei, wird ein Befehl gebrüllt. Keuchend lassen sich die Kämpfer ins Gras fallen, packen ihre Butterbrote aus und zücken ihre Handys.
Noch einige Male verlasse ich den Pfad, um über die Wiese zur Küste zu gehen. An einer Ruine (war es eine Kapelle, ein Wohnhaus oder ein Schuppen? Es ist nicht mehr zu erkennen) gelingen mir einige schöne Fotos. Zudem drehe ich ein kleines Video für die Familie – das ich ihnen hoffentlich bald schicken kann, wenn ich in Castro Wlan finde.
Der Weg führt durch einen Tunnel, der von dicken Holzbohlen abgestützt ist. Hier rollte wohl vor Jahrzehnten der Transportzug durch, heute sind dort Fußgänger, Jogger, Soldaten und natürlich Pilger unterwegs. Apropos Pilger: ich treffe Ken und Mizuho, die ebenfalls spät gestartet zu sein scheinen und mich nun aber eingeholt haben. Wir wechseln ein paar Worte, dann gehen sie weiter.
Mittlerweile habe ich das Baskenland hinter mir gelassen und befinde mich in Kantabrien. Weil die Kantabrier den römischen Eroberern den meisten Widerstand leisteten, wurden sie von allen nordspanischen Völkern am konsequentesten romanisiert, lese ich im Führer. Den Nationalstolz à la „Euskal Herria“, den ich in der ersten Pilgerwoche einige Male erleben konnte, werde ich hier wohl nicht mehr finden.
Schließlich erreiche ich das Ende des wunderschönen Panoramaweges. Kurz darauf geht es einen Pfad steil bergab unter einer Autobahnbrücke hindurch. Wieder kann ich kaum begreifen, wie man die Schönheit der Natur mit solchen Bauwerken verschandeln kann – gerade in einem Land, das (auch) vom Tourismus lebt. Ich mache mich vorsichtig an den Abstieg, als von hinten erneut der Trupp Soldaten anmarschiert kommt. Offensichtlich ist die Frühstückspause beendet. Ich lasse die schwerbewaffneten Männer passieren und klettere dann den Hügel hinab, bis ich Ontón erreicht habe.
Der folgende Weg ist bei weitem nicht so schön. Es geht auf der Landstraße bergauf und bergab, ich komme an einer Tankstelle vorbei, Sattelschlepper brausen an mir vorbei und biegen bald darauf auf die nahe Autobahn ab. Dann erreiche ich endlich die im Führer beschriebene Hausruine; kurz danach zweigt der Jakobsweg auf einen Waldpfad ab. Nahe des Dorfes Mioño komme ich an einen kleinen, fast menschenleeren Strand. Zwei einsame Surfer paddeln in ihren Neoprenanzügen im Wasser herum. Neben dem Strand befindet sich ein Areal, das verdächtig nach Pferdereitplatz aussieht – nur Pferde sind weit und breit nicht zu sehen.
An einer Muttergottes-Grotte mache ich kurz Halt. Durch das Gitter schieße ich ein Foto; eine Frau fragt mich, ob sie auch ein Foto von mir machen soll, und bittet mich dann, mit ihrer Kamera auch sie und ihre beiden Begleiterinnen abzulichten.
Direkt hinter einer Bar geht es bergauf. Als ich oben angekommen bin, bietet sich mir erneut ein toller Blick auf die Küste. In der Ferne kann ich schon Castro-Urdiales, den Endpunkt meiner heutigen Etappe, erkennen. Es ist bereits Mittag, als ich die ersten Häuser von Castro-Urdiales erreiche. An dieser Stelle ist es ziemlich laut, denn linkerhand werden neue Ferienhäuser gebaut. Bagger kratzen mit ihren Schaufeln in der Erde herum und kämpfen mit Felsbrocken. An einem der Häuser wecken einige am Balkon angebrachte Muscheln mein Interesse. Ich schaue hoch – und blicke direkt in die Augen eines Spaniers, der an der Brüstung lehnt und mich anlächelt.
Als ich in meinem Führer blättere, um mir den weiteren Weg einzuprägen, beginnt der Mann ein Gespräch mit mir. Ich verstehe nicht viel, mein Acht-Wochen-Spanisch reicht aber immerhin aus, um grob zu kapieren, was er mir sagen will. Ich bekomme den Weg zur Herberge erklärt, die neben einer Stierkampfarena liegt, zudem berichtet er mir, dass er auch schon den Camino gelaufen ist. Natürlich will er von mir wissen, wo ich herkomme und wo ich gestartet bin. Ich gebe brav Antwort und quittiere den restlichen Wortschwall mit einem Lächeln und einem gelegentlichen Nicken.
Dann verabschiede ich mich, lasse den Mann und die Bagger hinter mir und laufe weiter auf Castro zu. Ich widerstehe dem Impuls, die Flip-Flops auszuziehen und barfuß weiterzugehen. Eigentlich ist der Weg perfekt für unten ohne, aber ich will nicht dauernd auf den Pfad vor mir starren, sondern die Aussicht auf das Meer genießen. Auch so muss ich aufpassen, nicht den Halt zu verlieren, denn der Weg ist steinig und stellenweise ein wenig rutschig.
Kurz darauf passiert es: Ich bin einen kleinen Moment unaufmerksam und verliere das Gleichgewicht. Mit Karacho lande ich wie ein Marienkäfer auf dem Rücken. Der Rucksack dämpft einen Teil des Sturzes, dennoch habe ich mir eine ordentliche Prellung am verlängerten Rücken eingehandelt. Ich inspiziere den Rest meines Körpers – und danke Gott, dass dieser Fauxpas ohne größere Blessuren abgegangen ist. Kurz darauf stelle ich fest, wem ich das noch zu verdanken habe: der blauen Plastikflasche in meiner linken Hand.
Das gute Stück hatte ich in der Herberge in Pasaia beim dortigen Hospitalero gekauft. Weil sie so praktisch ist (stabil und mit einem Trageloch im Schraubverschluss), habe ich sie auf dem weiteren Weg nicht entsorgt, sondern immer wieder nachgefüllt. Weil ich zu faul war, sie jedesmal aus dem Rucksack zu fischen, wenn ich etwas trinken will, habe ich sie auf den vergangenen fast 200 Kilometern in der Hand getragen.
Jetzt hat die Flasche mir meine Treue zurückgezahlt – und dabei selbst etwas abgekriegt: Im unteren Drittel sind zahlreiche Dellen, die ich auch nicht mehr rausgedrückt bekomme. Aber sie ist noch dicht – und ich bin unverletzt.
Endlich habe ich die Strandpromenade von Castro-Urdiales erreicht. Die Sonne hat sich nun gegen die Wolken durchge- setzt und taucht die zahlreichen Boote, die in der Bucht auf den Wellen schaukeln, in ein warmes Licht. Nur eine Sache stört die Idylle: ein ohrenbetäubender Lärm. Lautsprecherdurchsagen, gefolgt von donnernder Musik und einem durchdringenden Heulton. Was da wohl los ist? Vielleicht eine Demonstration, vermute ich. Als ich näherkomme, stelle ich fest, dass es sich tatsächlich um eine Protestkundgebung handelt – Plakate sind aufgestellt, einige Menschen verteilen Handzettel. Es hätte mich schon interessiert, für welche Sache die Aktivisten einstehen, doch der Lärm lässt mich schnell weitergehen.
Links reiht sich ein Café an das andere. Wenn ich jetzt Wlan hätte, dann könnte ich das Video vom Vormittag und ein paar weitere Fotos an die Lieben zuhause schicken. Mit dem iPhone in der Hand bleibe ich immer wieder stehen, um nach einem offenen Netz zu suchen. Leider Fehlanzeige. Schließlich betrete ich die Touristinfo, die in einem flachen Bau direkt am Ufer untergebracht ist, und lasse mir eine Karte der Innenstadt geben. Ob es hier irgendwo kostenloses Wlan gibt, frage ich die Dame hinter dem Tresen. Sie überlegt kurz und kringelt mir dann zwei Stellen ein.
Als ich jedoch an den markierten Punkten angekommen bin, finde ich kein Internet. Mein Magen meldet sich, ich frage eine Passantin auf Spanisch nach einem Supermarkt. Leider verwechsele ich die Vokabeln – ich habe wohl grade gefragt, wo das Rathaus ist. Die Frau ahnt wohl, dass ich in meinem Aufzug nicht zum Rathaus will, und fragt auf Englisch, was ich wissen will. Ich wiederhole mein Anliegen – und bekomme einen Supermarkt gezeigt, der direkt vor mir auf der anderen Straßenseite liegt.
Vor den Regalen vertändele ich weitere Zeit. Ich kann mich irgendwie nicht entscheiden, zudem geht mir das Wlan-Thema nicht aus dem Kopf. Wenn ich nicht bald das Video abschicken kann, habe ich es ganz umsonst gedreht. Also beschließe ich, heute nicht aus dem Supermarkt-Regal zu essen, sondern in eine Bar zu gehen – dort gibt es bestimmt Internet. In einer Apotheke finde ich endlich eine kleine Zahnbürste und eine noch kleinere Tube Zahnpasta – mein Zeigefinger kann als Bürstenersatz endlich in Rente gehen.
Bis ich das passende Café ausgesucht habe, vergeht wieder einiges an Zeit. Schließlich sitze ich mit ein paar Pintxos und einem Kaffee am Meeresufer. Die Bedienung tippt mir das Passwort ins iPhone, und ich kann endlich das Video verschicken. Dann versuche ich die Family per Videochat zu erreichen. Und tatsächlich: kurz darauf sehe ich die Gesichter der Kinder auf dem Bildschirm.
Ich erzähle von meinen jüngsten Erlebnissen, stehe dann auf und laufe eine kleine Runde, um der Familie die tolle Stadt zu zeigen. Dann macht der Akku die Grätsche, und der Chat ist Geschichte. Ich genehmige mir einen weiteren Kaffee – das Gebräu ist einfach megalecker und mit 1,20 Euro auch noch richtig günstig.
Dann breche ich auf: Ich will mir unbedingt dieses Leuchtturm-Kirchen-Ensemble ansehen. Fasziniert bleibe ich eine Weile an einem Wasserbecken stehen: Durch ein Loch in der Felswand rollen immer wieder gewaltige Wellen hinein und klatschen mit Macht gegen die Mauer. Das Wasser spritzt meterhoch. Ich versuche, die Szenerie im Bild festzuhalten, was aber nur leidlich gelingt. Was muss dieses Schauspiel erst abends toll aussehen, denke ich und beschließe, heute Abend hierher zurückzukehren.
Ich werfe noch einen Blick in eine Halle, in der die Fischer gerade ihre Fänge in Plastikkisten auf den Boden stellen, um sie dann zum Verkauf anzubieten. Dann gehe ich eine Treppe hinauf; von oben habe ich einen tollen Blick über den Hafen und auf das offene Meer. Ich bin restlos begeistert und freue mich darauf, den Abend in dieser tollen Stadt zu verbringen. Dann gehe ich zu der Kirche – die natürlich im Siesta-Tiefschlaf ist.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich mich langsam in Richtung Herberge aufmachen sollte. Heute will ich mich nicht verrückt machen, ob ich noch ein Bett bekomme, sondern meinem selbstgewählten Motto folgen: „Ich nehme alles so, wie es kommt.“ Bis zur Herberge sind es rund zwei Kilometer, ich gehe zunächst durch einige enge Gassen und erreiche dann die Ausfallstraße, die den Hügel hinaufgeht.
Der Weg zieht sich, ich habe mal wieder die Entfernung unterschätzt. Dann aber sehe ich ein Hinweisschild zur Herberge. Auf der anderen Straßenseite kommt mir eine Pilgerin entgegen. Warum geht sie in die „falsche“ Richtung? Eingecheckt kann sie nicht haben, schließlich trägt sie noch ihren Rucksack. Als sie mich sieht, gestikuliert sie mit ihren Armen und ruft mir zu: „Completo.“ Die Herberge ist also schon wieder voll. Ich stapfe trotzdem weiter – vielleicht kann ich auch hier auf dem Boden schlafen.
Ich gehe nach links an der Stierkampfarena vorbei – ein imposantes Bauwerk, dass unpassenderweise in einem Schweinchen-Rosa gestrichen ist – und erreiche dann die Herberge. Warum hat so eine große Stadt nur eine so kleine Unterkunft, frage ich mich. Es herrscht ein ziemliches Gedrängel, ich sehe einige Gesichter, die mir in den vergangenen Tagen schon begegnet sind. Im Garten der Herberge haben einige Pilger ihre Zelte aufgestellt. Ich treffe Arne, den Polizisten, der an einem Baum in der Sonne sitzt.
In der Herberge geht es zu wie in einem Taubenschlag. Der Hospitalero, ein junger Mann, spricht Deutsch – und verklickert mir, dass heute hier gar nichts mehr geht. Auch auf dem Fußboden kann ich nicht übernachten, erklärt er mir. Ich schaue mich kurz um – das kann ich nachvollziehen. Einen Speisesaal wie in Pobeña gibt es hier nicht, nur eine Kochnische. Ich fülle meine Wasserflasche auf – und treffe den Pilger aus Köln, der mir vor Orio über den Weg gelaufen ist. Ein Bett hat auch er nicht mehr bekommen – als die Herberge öffnete, hätten schon bestimmt 20 Pilger vor der Tür gewartet, berichtet er. Der Kölner sieht ziemlich fertig aus und sagt mir, dass er heute keinen Meter mehr weiterzugehen gedenkt – er will sich heute nacht ein Plätzchen auf dem Fußboden suchen.
Was mache ich jetzt? Soll ich zurückgehen und mir in der Stadt ein Zimmer in einer Pension nehmen? Dann müsste ich allerdings wieder tief in die Tasche greifen und hätte keine anderen Pilger um mich herum, könnte aber den Abend am Hafen verbringen. Oder soll ich einfach weiterlaufen? Bis Islares sind es laut Führer „nur“ acht Kilometer. Ich ringe mit mir. Ich habe mich sehr auf Castro gefreut – wenn aber jetzt die Herberge voll ist, sagt mir wohl die Vorsehung, dass ich nicht hierbleiben soll. Ich frage den Hospitalero, ob in Islares noch etwas frei ist. Er greift zum Telefon und ruft in der dortigen Herberge an. Ein kurzer spanischer Wortschwall – und dann erklärt er mir, dass dort noch genügend Platz ist.
Die Entscheidung ist gefallen: Schweren Herzens, aber gefasst („Ich nehme alles so, wie es kommt“) schnappe ich mir den Rucksack und mache mich auf den Weg. Es geht aus der Stadt heraus, unter der Autobahn hindurch und dann zunächst über eine Asphaltpiste. Zwischen Allendelagua und Cerdigo führt der Camino immer an der Autobahn entlang – nicht gerade prickelnd. Zudem zieht sich der Himmel zu und es beginnt zu tröpfeln. Der leichte Regen macht es mir etwas leichter, meine Entscheidung zu akzeptieren: Bei dem Wetter wäre ein Abend im Hafen von Castro sicher nicht so idyllisch gewesen.
Dann ist die Asphaltpassage überstanden – gleich werde ich wieder am Meer sein, teilt mir der Führer mit. Ich passiere einen merkwürdigen Turm aus Beton und stehe tatsächlich kurz darauf am Ozean. Ich entledige mich meiner Flip-Flops – den restlichen Weg bis Islares will ich barfuß zurücklegen. Über einen schmalen Wiesenpfad gehe ich an Pferden und Kühen vorbei, bis ich schließlich in Islares ankomme.
Die Herberge ist ein schmuckloser Bau neben der Kirche. Vor der Tür steht ein Wäscheständer, der wirklich gut behängt ist. Ich betrete den Aufenthaltsraum, der aus einer kleinen Küchenzeile und einem langgestreckten Tisch besteht. An diesem sitzt der Hospitalero und stempelt Credentials. Als er mich bemerkt, blickt er kurz auf, sagt „Completo“ und wendet sich wieder seiner Stempelarbeit zu. Schon wieder voll – wird das hier zur Dauereinrichtung? Ich bin moderat konsterniert und frage, warum er dann dem Hospitalero in Castro am Telefon gesagt habe, es sei genügend Platz. Es seien eben vorhin noch einige Pilger eingetroffen, meint er lapidar – und fragt mich dann, ob ich im Garten in einem Zelt schlafen will.
Ich willige ein, er steht auf und geht mit mir hinters Haus. Auf einer kleinen Wiese stehen etwa acht bis zehn Einmann-Kuppelzelte, in denen jeweils eine – angesichts des Wetters ziemlich klamme – Matratze liegt. Das Ambiente verspricht nicht gerade eine kuschelige Nacht, aber ich willige ein. Ich will nicht weitergehen, auch wenn auf dem nahen Campingplatz ebenfalls einige wenige Unterkünfte für Pilger sind. Am Ende ist da auch noch alles voll, und dann kann ich hierher zurücktapern, denke ich.
Zudem sind hier wenigstens Pilger, mit denen man den Abend verbringen kann. Ich lasse meinen Credential stempeln, zahle einen Sonderpreis von 6 Euro und stelle dann erfreut fest, dass bekannte Gesichter am Tisch sitzen: Die Italiener aus Orio sind da, zudem das japanische Weltreise-Pärchen, und auch Gabriela hat es bis hierher geschafft. Sie sei den Tag über mit Anne gelaufen, die vorhin noch bis zum Campingplatz weitergegangen sei, erzählt sie.
Nach einer Dusche und einer Cerveza setze ich mich zu den anderen Pilgern. Einige sind gerade vom Campingplatz zurückgekommen – sie haben im dortigen Supermarkt ein paar Sachen zu Essen gekauft und beginnen nun zu vespern. Einige andere Pilger machen sich gerade auf den Weg, um ebenfalls einzukaufen. Ich habe wenig Hunger – ob vor Müdigkeit oder wegen der Enttäuschung am Nachmittag, weiß ich nicht. Jedenfalls kommt für mich heute nicht mehr in Frage, noch irgendwo hinzugehen.
Ich plaudere ein wenig mit den anderen Pilgern, darunter mit einer 75-jährigen Französin aus Lille. Dann lerne ich Rose aus Irland kennen, die an einer Schule Naturwissenschaften und Mathematik unterrichtet. Langsam leert sich der Raum – die Pilger gehen nach und nach ins Bett. Mich zieht nichts in das ungeliebte Zelt, dennoch mache ich mich jetzt ebenfalls bettfertig. Draußen ist es kühl geworden. Ich habe ein wenig Bedenken, dass es mit dem leichten Schlafsack im Zelt zu kalt werden könnte, und frage den Hospitalero, ob ich eine Decke (die auf Spanisch lustigerweise Manta heißt) haben kann. Barsch meint er: „Du schläfst im Zelt, also keine Decke.“ Ich wundere mich, warum der junge Mann so schlechte Laune hat, und nehme dann dankbar von einer jungen Frau deren Decke entgegen.
Als ich schließlich in meinem Schlafsack liege, beginnt es draußen zu regnen. Die Tropfen prasseln auf das Zeltdach, und ich weiß wieder einmal, warum ich nicht gerne campe. Dennoch bin ich nicht unzufrieden: Gott gibt mir immer das, was ich gerade brauche – auch wenn es nicht immer das ist, was ich erwarte. Schon vor dem Jakobsweg hatte ich einen schönen Spruch gelesen: Wenn ich darum bitte, geduldiger zu werden, gibt Gott mir nicht mehr Geduld, sondern Gelegenheit, die Geduld zu üben. Übertragen auf den Camino heißt das: Wenn ich mir vornehme, alles zu nehmen, wie es kommt, auch wenn es mir eigentlich nicht passt, dann muss ich auch Gelegenheiten bekommen, diesen Vorsatz zu praktizieren. Heute heißt das eben: Zelt statt Altstadt. Deo gratias.
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte