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Ankommen

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Tag 1: Anreise (Hahn-Santander)

Die Turbinen heulen auf, ich werde in den Sitz gepresst. Wie ein Pfeil schießt der Airbus A300-800 über die Startbahn des kleinen Hunsrück-Flughafens Hahn. Als die Maschine ihre Startgeschwindigkeit erreicht hat, hebt sie sich sanft und majestätisch in die Luft. Häuser, die eben noch so groß waren, werden zu Miniaturen wie auf dem Brett einer Modelleisenbahn.

Wenige Minuten zuvor ist die Countdown-App abgelaufen: Nur noch 0 Tage, 0 Stunden und 0 Minuten bis zu meinem großen Abenteuer – dem Camino del Norte. Es fühlt sich komisch an, die Familie – die auf der Besucherterrasse dem in den Wolken verschwindenden Flugzug hinterhersieht – für drei Wochen zurückzulassen. So lange war ich noch nie alleine unterwegs, seit ich Frau und Kinder habe.

 

Im Rucksack, der im Gepäckfach über meinem Kopf gut verstaut ist, liegt ein Brief meines Schatzes. Ich bin gespannt, was darin steht, aber ich soll ihn erst in Santander öffnen, wenn ich angekommen bin. Angekommen. Wann bin ich denn angekommen? Wenn das Flugzeug in Nordspanien gelandet ist? Wenn ich im Hotelzimmer stehe? Wenn ich am berühmten Sardinero-Strand von Santander das erste Mal meine Füße in das Wasser des von mir so geliebten Meeres stecke? Oder vielleicht erst dann, wenn ich nach wochenlangem Fußmarsch tatsächlich vor der Kathedrale von Santiago de Compostela stehe?

Bis letzteres soweit ist, wird noch eine ganze Zeit ins Land gehen. Da ich mich entschieden habe, den Camino del Norte – oder eigentlich Camino de la Costa, den Küstenweg, wie er korrekt heißt – von Anfang an zu gehen, aber „nur“ drei Wochen Zeit habe, werde ich Santiago nicht erreichen; zumindest nicht in diesem Jahr. Mit meiner Frau habe ich ausgemacht, dass wir den Weg gemeinsam zu Ende gehen, wenn die Kinder groß genug sind, ein paar Wochen ohne uns auszukommen. Das wird voraussichtlich in drei Jahren der Fall sein – sinnigerweise das Jahr, in dem wir unsere silberne Hochzeit feiern werden.

Ankommen heißt für mich also, so weit zu laufen, wie ich in drei Wochen eben komme. Laut meiner vorläufigen Etappenplanung wird das irgendwo zwischen Santander und Gijon sein. Doch nun will ich erst mal in Santander ankommen. Ich schaue aus dem Fenster: unter mir erkenne ich Paris, den Triumphbogen und die Windungen der Seine. Knapp die Hälfte des Weges ist also schon geschafft.

Während neben mir die Ryanair-Crew Getränke, Stullen und Rubbellose verkauft, hänge ich weiter meinen Gedanken nach. Es ist eine Reise ins Ungewisse, obwohl ich monatelang Bücher und unzählige Blogs über den Camino gelesen habe, obwohl ich das Hotelzimmer für die erste Nacht vorgebucht habe und sogar schon in Google nachgeschaut habe, wo am Flughafen der Shuttlebus in die Stadt abfährt. Und trotzdem ist es nicht wie sonst, wenn ich verreise. Ich bleibe nicht an einem Ort, sondern werde – wenn mich meine Füße nicht im Stich lassen – an jedem Tag woanders sein. Alles, was ich für diese drei Wochen brauche – im übertragenen Sinn: alles, was ich besitze – trage ich in einem Rucksack auf meinem Rücken.

Wie wird es wohl sein, mit knapp acht Kilo Gepäck stun- denlang zu laufen? Werde ich stark genug dafür sein? Werden meine Erwartungen, die ich an den Weg geknüpft habe, erfüllt werden? Was wird der Weg mit mir anstellen, was wird er mir geben?

Als der Flieger am Golf von Biscaya das französische Festland verlässt und auf den Atlantik hinausfliegt, steigt die Vorfreude. Immer wieder habe ich in den Tagen vor dem Abflug den Wet- terbericht verfolgt und mich gefreut, als ich die Sonnensymbole und die Temperaturen deutlich über der 20-Grad-Marke gese- hen habe. Seit gestern aber sieht die Vorhersage durchwachsen aus – Wolken, kühlere Temperaturen, vielleicht sogar Regen. Dabei wünsche ich mir für den ersten Tag so sehr schönes Wetter, wenn ich über den Grat des Berges „Jaizkibel“ laufe – ich freue mich so sehr auf die grandiosen Ausblicke, die mir der Reiseführer und zahlreiche Bilder im Internet versprochen haben.

Schneller als gedacht setzt der Flieger zur Landung an. Gerade habe ich meine erste Enttäuschung zu verdauen gehabt: Ich wollte so gerne von oben die Küste sehen, den Weg zwischen Irun und Santander, den ich in den ersten zwei Wochen des Camino gehen werde. Doch ich habe leider einen Platz auf der fal- schen Seite gebucht: ich schaue aufs Meer, den Ausblick auf die Küste haben die Passagiere auf der anderen Seite. Tapfer kämpfe ich mit meinen Gefühlen und denke daran, dass ich mir für die nächsten drei Wochen fest vorgenommen habe, alles so zu nehmen, wie es kommt, ohne mich aufzuregen oder zu hadern. Das war also die erste Lektion.

In einer weiten Schleife verlässt das Flugzeug den Atlantik und steuert den Airport von Santander an. Ich kann die Stadt unter mir gut erkennen und sogar schon den Strand Sardine- ro, an dem ich heute Abend noch vorbeischauen will. Extra dafür habe ich mir ein Hotel in Strandnähe ausgesucht und dafür auch in Kauf genommen, dass ich vom Busbahnhof aus ein ganzes Stück bis zum Bett zurücklegen muss.

„Machen Sie eine Wanderung?“, fragt mich die Frau neben mir plötzlich.
„Nein, ich pilgere auf dem Jakobsweg“, entgegne ich. Zu meiner Überraschung stellt sich heraus, dass sie und ihre Freundin auf dem Sitz daneben ebenfalls auf den Camino wollen. Sie seien vergangenes Jahr von Irun bis nach Castro Urdiales gelaufen. „Eigentlich wollten wir noch weiter, aber in Castro war es so schön, da haben wir uns ein Hotelzimmer genommen und sind noch ein paar Tage dageblieben.“ Jetzt wollen sie mit dem Bus nach Castro und dann weiter in Richtung Santiago pilgern.

Als die Maschine gelandet ist, schnappe ich mir meinen Rucksack. Bewusst habe ich mich dagegen entschieden, das Gepäck aufzugeben – zu groß war meine Angst, dass der Rucksack verloren geht und ich plötzlich ohne meine Sachen in Santander stehe. Dabei wäre vermutlich ein wenig mehr Vertrauen angebracht. Schließlich hatte ich auch Bedenken, dass in Hahn die Größe des Rucksacks beanstandet wird. Probeweise hatte ich ihn am Gate in eines dieser Testgestelle gesteckt – und einen Riesenschreck bekommen, als er nicht hineinpasste. Doch nach ein wenig Umpacken ging es dann.

Während die anderen Passagiere am Gepäckband auf ihre Koffer warten, gehe ich zum Ausgang. Ich bin überrascht, wie klein der Flughafen ist. Schließlich hat die Stadt gut 130.000 Einwohner, doch das Terminal ist nicht größer als das in Hahn. Als ich aus der Tür ins Freie trete, empfangen mich strahlender Sonnenschein und angenehme Temperaturen – dabei ist es schon fast halb neun Uhr. Wie auf Bestellung fährt nur eine Minute später der Shuttle-Bus vor. Ich steige ein, bezahle 2,50 Euro und lege meinen Rucksack in das Metallgestell, das im Bus verschraubt ist. Dann suche ich mir einen Platz, an dem ich aus dem Fenster schauen kann – was gar nicht so einfach ist, denn viele Scheiben sind mit einer schwarzen Folie verklebt; wohl ein Schutz gegen die Sonne, denke ich.

Nur noch ein weiterer Fahrgast besteigt den Bus. Auch er legt einen Rucksack in das Gepäckregal. Verstohlen halte ich nach einer Jakobsmuschel Ausschau – vielleicht ist es ja auch ein Pilger. Die Fahrt dauert nicht lange, schnell ist der Busbahnhof erreicht. Da stehe ich nun, mitten in einer fremden Stadt, und muss mich orientieren. Weil ich noch nichts zu Abend gegessen habe, will ich schnell das Hotel erreichen, den Rucksack abstel- len, etwas Essbares besorgen und dann am Strand den Sonnen- untergang genießen. Deshalb beschließe ich, mit dem Bus zum Hotel zu fahren. Doch welcher Bus ist der Richtige?

Der Linienplan ist verwirrend, vor allem weil ich gar nicht so genau weiß, wo das Hotel sich befindet. Zudem gibt es keinen Fahrplan mit Abfahrtszeiten wie in Deutschland. Ich frage ein junges Mädchen an der Bushaltestelle – sie kann zwar ein wenig Englisch, mir aber kaum weiterhelfen. Wenigstens eines wird mir klar: Ich muss zumindest zu einer Bushaltestelle in der Innenstadt laufen, an der mehr Busse halten, sonst werde ich hier ewig warten.

Ich mache mich also auf den Weg, den mir das Mädchen gewiesen hat. Es geht durch einen Tunnel, der auf beiden Seiten einen Fußweg aufweist. Schulkinder haben die Wände mit bunten Bildern verziert – Graffiti wie bei uns sehe ich nicht. Am Ende des Tunnels stehe ich auf einer belebten Hauptstraße und erkenne vor mir das imposante Rathaus von Santander.

Nur ein paar Meter weiter liegt rechts die Bushaltestelle. Welcher Bus fährt denn nun zum Hotel? Ich frage einen älteren Mann – und bin erfreut, dass er meine wenigen Brocken Spanisch versteht. Er zeigt mir, mit welcher Linie ich fahren muss. Als der nächste Bus ankommt, steigt der Mann ein – und gibt mir per Handzeichen zu verstehen, dass dies der falsche Bus für mich ist. Es ist also weiter Warten angesagt.

Nach ein paar Minuten wird mir das zu blöd: Ich bin ausgeruht, das Wetter ist toll, die Stadt macht einen sehenswerten Eindruck – warum nicht zu Fuß zum Hotel gehen? Die Navigations-App im iPhone sagt mir, dass es 1,9 Kilometer bis zum Hotel sind. Ein Katzensprung, denke ich. Das schaffe ich locker. Entschlossen mache ich mich auf den Weg, das iPhone in der Hand. Schon kurz darauf bin ich froh, nicht den Bus genommen zu haben: Plötzlich stehe ich vor der Kathedrale der Stadt.

Ich schlendere die Stufen hoch und freue mich, dass das Gotteshaus geöffnet ist. Ein kurzer Rundgang durch die sehenswerte Kirche, dann werde ich aber von einem freundlichen jungen Priester gebeten, hinauszugehen – Sperrstunde. Ich schaue mir noch den Kreuzgang an und schieße einige Fotos. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.

Wenig später wundere ich mich, warum das iPhone mich permanent „um die Ecke“ schicken will, statt den direkten Weg zum Hotel zu wählen. Einen Umweg will ich nicht auch noch machen, also ignoriere ich die Vorgaben der Navi-App und kürze durch die Innenstadt ab. Ich komme an zahllosen Bars vorbei, die ausnahmslos proppevoll sind. Sogar auf der Straße stehen die Spanier, prosten sich zu, essen Tapas und unterhal- ten sich lautstark. Ich entdecke ein kurioses Verkehrsschild, auf den Richtungsanzeigern steht auf Spanisch nichts anderes als „Rechts“, „Links“, „Geradeaus“ und „Zentrum“. Ein Kunstwerk?

Plötzlich geht es eine Treppe hinauf und steil den Berg nach oben. Ich beginne mich zu wundern, ob das wirklich der beste Weg zum Hotel ist. Oben angekommen habe ich zwar einen tollen Blick auf die Stadt, muss nun aber laut Navi-App den ganzen Berg wieder nach unten. Schweißgebadet und ausgehungert komme ich vor dem Hotel an. Im Erdgeschoss ist eine Bar, da gibt es bestimmt was zu essen. Aber ich habe mir ja vorgenom- men, noch an den Strand zu gehen. Kurz bereue ich, nicht schon auf dem Weg durch die Stadt irgendwo Halt gemacht und etwas gegessen zu haben. Aber das ist nicht mehr zu ändern – und ich will ja alles nehmen, wie es kommt.

Ich checke ein. Der jungen Dame an der Rezeption erkläre ich, dass es ganz schön anstrengend war, über den Berg zum Hotel zu kommen. Erstaunt fragt sie mich, warum ich nicht den Tunnel genommen hätte. Schlagartig wird mir klar, warum die Navi-App mich permanent „um die Ecke“ schicken wollte. Ich nehme das Erlebnis als Generalprobe für die Etappen der nächsten Tage – da ist schließlich auch noch genug Bergsteigen angesagt.

Das Zimmer ist klein, aber wunderschön. Ich bleibe allerdings nicht lange, sondern mache mich auf den Weg zum Strand. Draußen entdecke ich tatsächlich den Tunnel – da hätte ich eine Menge Zeit sparen können. In der Bar des Hotels ist der Teufel los – auf dem Fernsehbildschirm läuft Fußball. Das spanische Pokalfinale: Barcelona gegen Bilbao. Verlockend, aber ich habe nicht ein Hotel in Strandnähe gewählt, um dann vor dem Fernseher zu versacken.

Der Strand ist wirklich nicht weit entfernt. Ich hoffe, dort etwas zu essen zu finden, doch als ich nach 600 Metern am Sardinero ankomme, finden sich gerade mal drei Möglichkeiten, etwas zu essen zu kaufen. Unglaublich, in Deutschland wäre diese tolle Location mit Restaurants gepflastert. Wo also zuschlagen? Ich will etwas typisch Spanisches, am besten zum Mitnehmen. Das mittlere Restaurant scheidet aus, es gehört der gehobeneren Preiskategorie an – und mitnehmen kann man da nichts. Links daneben gibt es Bocadillos, also belegte Baguettes, von denen mir mein Schatz schon vorgeschwärmt hat. Allerdings ist der Laden so ein Fast-Food-Schuppen: Bocadillo als King-Size-Menü mit Cola und Pommes. Nicht das, was ich mir erhofft hatte. Bleibt der dritte Laden, rechts. Es ist – ein Pizza Hut. Also typisch spanisch. Aber da muss ich jetzt durch, ich habe Hunger und will noch an den Strand, bevor es wieder hell wird.

An der Abholtheke ordere ich eine Pizza und genehmige mir erstmal eine Cerveza. Auf dem riesigen Bildschirm an der Wand spielt immer noch Barcelona gegen Bilbao, gerade macht Messi sein zweites Tor. Mit der Pizza und einer weiteren Cerveza mache ich mich endlich auf zum Strand. Die Promenade ist schön erleuchtet, ich finde eine Parkbank und mache mich erst einmal satt. Dann gehe ich zum Wasser, das ganz schön weit entfernt ist – es ist Ebbe. Als das Wasser meine nackten Füße umspült, weiß ich: jetzt bin ich angekommen. Der Camino hat begonnen!

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

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Veröffentlicht von

Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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