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Schwein gehabt

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Tag 12: Von Islares nach Laredo (24 Kilometer)

Zip-Zap. Rrrripp. Ziiiiip. Zip-Zap. Es ist ein komisches Geräusch, das mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf holt. Ich bin schlagartig hellwach. Ich höre Stimmen, Gelächter, und immer wieder dieses merkwürdige Geräusch, das langsam näherkommt. Rrrripp. Ziiiiip. Plötzlich wird mir klar, was ich da höre: Irgendjemand macht an den Zelten um mich herum die Reißverschlüsse auf und wieder zu. Sind das Jugendliche, die Unsinn im Kopf haben, sind es vielleicht Obdachlose, die eine kostenlose Bleibe für die feuchte Nacht suchen – oder sind es sogar irgendwelche Gauner, die scharf darauf sind, wehrlosen Pilgern die Wertsachen abzunehmen?

Was soll ich tun? Regungslos liegenbleiben und darauf hoffen, dass die Unbekannten mein Zelt in Ruhe lassen? Oder raus aus dem Zelt und nachsehen? Ich bin noch unentschlossen, was das Richtige ist, da hört das Geräusch plötzlich auf – und die Stimmen entfernen sich. Mein Schutzengel scheint gut aufzupassen, denke ich und schlafe wieder ein.

Ich bin diesmal früh aufgewacht, wie ich mit einem Blick auf die Uhr feststelle. Abgesehen von der Reißverschluss-Schrecksekunde war die Nacht ausgesprochen erholsam, wie ich ebenso überrascht wie dankkbar feststelle. Ich klettere aus dem Zelt, schnappe meine Sachen und betrete die Herberge. Es herrscht bereits ordentlich Betrieb: Einige Pilger verdrücken große Mengen von Toastbrot, die der Hospitalero auf einer Art Grill zubereitet. Da ich kein Frühstück gebucht habe (und auch keinen Hunger verspüre, wie immer um diese Zeit), packe ich den Rucksack und gehe los.

Bald darauf komme ich an dem Campingplatz vorbei, auf dem Anne übernachtet hat. Es beginnt zu regnen – zum ersten Mal auf dem Camino ist das Wetter so schlecht, dass ich den Poncho überziehen muss. Prima, dann habe ich ihn ja nicht umsonst mitgenommen. Ich fühle mich mit dem riesigen roten Lappen wie ein zugehängtes Kettenkarussel, stelle aber erfreut fest, dass das „Mikroklima“ unter dem Poncho angenehm ist – im Internet hatte ich da vorher einige Horrorgeschichten („nass von außen, nass von innen“) gelesen.

Der Name des heutigen Zielorts erinnert mich an einen Wildwestfilm: ich will nach Laredo. Auf dem Weg warten noch zwei nette Hügelchen auf mich – und ein gehöriges Stück Strecke. Ich habe mich nämlich entschieden, nicht die Abkürzung über die Nationalstraße nach Liendo zu gehen, sondern dem offiziellen Jakobsweg zu folgen. Der ist zwar mehr als sieben Kilometer länger, aber laut Führer auch deutlich schöner. Schöneres Wetter würde es leichter machen, den Weg zu genießen, denke ich. Wie auf Knopfdruck hört der Regen auf. Ich ziehe den Poncho aus und hänge das nasse Stück Kunstfaser hinten über den Rucksack.

Doch bis ich den schönen Weg erreiche, habe ich noch eine Durststrecke vor mir: kilometerweit geht es die Nationalstraße bergauf. Dann muss ich wieder mal unter der Autobahn hindurch. Bald erreiche ich Nocina. Ich halte nach einer Alimentation Ausschau, denn meine Essensvorräte sind aufgebraucht. Ohnehin habe ich mich entschieden, nicht mehr so viel Proviant mit mir herumzuschleppen, sondern gewissermaßen „just in time“ zu essen. Doch dazu braucht es einen „Zulieferbetrieb“ – und hier in Nocina gibt es keinen.

Laut Führer wartet im nächsten Ort ein kleiner Supermarkt auf mich. Ich lege einen Schritt zu und stehe bald darauf in dem Dorf mit dem schönen Namen Rio Seco vor dem Eingang des Supermarkts. Der Rollo ist noch halb heruntergelassen, doch im Inneren brennt schon Licht, und zwei Kassiererinnen halten ein ausgiebiges Schwätzchen. Ich schaue auf die Uhr: es ist kurz vor 9 Uhr. Sicher wird der Markt bald aufmachen, denke ich und krabbele unter dem Rollo hindurch, um zu fragen. Doch die Kassiererinnen scheuchen mich postwendend zurück – sie öffnen erst um 9.30 Uhr, rufen sie mir zu.

So lange will ich nicht warten, also gehe ich weiter. Vielleicht finde ich in Liendo einen Laden. Etwas später überquere ich den Fluss Agüera und durchwandere den Ort La Magdalena. Ein riesiges Anwesen auf der rechten Seite weckt mein Interesse: ein imposantes altes Haus – wohl ein früherer Adelssitz – steht in einem ausgedehnten Park, in dem gleich mehrere Gärtner ihren Dienst verrichten. Dann komme ich an einer Grundschule vorbei. Gerade bringen zahlreiche Mütter und Väter ihren Nachwuchs zum Unterricht. Ich schaue auf die Uhr: 9.30 Uhr. Interessant, wie spät die Schule beginnt – in Spanien gehen die Uhren eben anders.

Die Dorfkirche befindet sich gleich nebenan – und ist natürlich zu. Ich biege rechts auf einen schmalen Pfad ab und staune über ein weiteres Anwesen, ganz aus Naturstein errichtet, mit gleich mehreren Außengebäuden. Das würde eine tolle Pilgerherberge abgeben, schießt mir durch den Kopf. In Kurven führt der Weg aus dem Ort heraus, dann erreiche ich einen Waldweg. Eigentlich wieder ein Barfuß-Kandidat, aber ich will meine Füße nicht über Gebühr beanspruchen, also bleiben die Flip-Flops an.

Steil geht es hinauf durch den Wald. Ein durchdringender, aber nicht unangenehmer Duft nach Hustenbonbons steigt mir in die Nase. Das müssen Eukalyptusbäume sein, denke ich und zupfe ein Blatt von einem herunterhängenden Ast. Das Grün zerreibe ich zwischen den Fingern und nehme dann eine Nase voll. Es riecht tatsächlich wie in einem Klostergarten.

Aus dem Waldpfad wird bald ein Schotterweg, dem man ansieht, dass er auch von Forstfahrzeugen benutzt wird. Vor mir taucht eine Pilgerin auf. Die junge Frau hat ein überaus gemächliches Tempo drauf. Als ich näherkomme, sehe ich auch, warum. Ihre Füße stecken in Trekkingsandalen und sind so dick getaped, dass man kaum die Haut sehen kann. Sicher hat sie Schmerzen, aber sie setzt tapfer einen Fuß vor den anderen. Ich verlangsame meinen Schritt, vielleicht kann ich irgendwie helfen. Die junge Frau blickt kurz auf, lächelt scheu und schaut dann wieder auf den Boden. Sie sieht nicht so aus, als hätte sie derzeit das Bedürfnis nach einer Kontaktaufnahme. Also lege ich wieder einen Schritt zu.

Endlich, nach einem kilometerlangen Anstieg, bin ich oben angekommen. Laut Führer habe ich den höchsten Punkt der Etappe erreicht. Nun geht es wieder bergab – und vor mir tut sich eine wahrhaft grandiose Landschaft auf: ein langgestrecktes, bewaldetes Tal, aus dem sich majestätisch steile Felsen erheben. Die Kamera im iPhone beginnt wieder zu glühen, als ich ein Foto nach dem anderen schieße.

Wie froh bin ich, dass ich nicht die Abkürzung nach Liendo gewählt habe, sonst wäre mir dieser Ausblick verwehrt geblieben. Das Wetter ist zwar weiterhin durchwachsen, die Sonne macht sich rar, aber wenigstens ist es trocken. Ich komme an Pferdekoppeln vorbei, die von uralten Bruchsteinmauern gesäumt sind. Auf Weiden grasen Kühe und Schafe. Ich sehe einen Bauern, der ein Schaf auf einen Heuanhänger verfrachtet und dem Tier dann eine Freifahrt nach Liendo spendiert – dem Schaf sieht man an, dass es das Ziel der Fahrt genausowenig kennt wie ich.

Schließlich erreiche ich wieder – wie könnte es anders sein – eine Autobahnbrücke. Sie trennt das wunderschöne Bergtal von der weiten Ebene, in der Liendo liegt. Weitere zwei Kilometer geht es durch einen Ortsteil von Liendo durch Landhäuser und Bauernhöfe, bis ich im Ortskern ankomme. Ich halte Ausschau nach einer Alimentation, um mir etwas zu essen zu kaufen, als ich plötzlich Gabriela erblicke.

Als sie mich bemerkt, kommt sie auf mich zugehumpelt. Sie beißt die Zähne aufeinander – das sieht gar nicht gut aus, denke ich. Sie habe Schmerzen am Schienbein, berichtet sie. Offenbar war das Tempo, das Anne am Vortag vorgelegt hat, zu viel für sie. Ich kenne diesen Schmerz schon von Wallfahrten in Frankreich, wo ich an einem Tag mörderische 38 Kilometer gelaufen war und am Ende kaum noch auftreten konnte. Aus dem Ratgeber für Pilger, den ich zuhause gelesen hatte, weiß ich zudem, dass ein solcher Überlastungsschmerz ein paar Tage Ruhe fordert – blöd, wenn man gerade auf dem Camino ist, aber nicht zu ändern.

In einer Apotheke hat Gabriela sich mit einer Salbe versorgt und dort auch gefragt, wann und wo der Bus nach Laredo abfährt – an Weiterlaufen ist nicht mehr zu denken. „Vor der Kirche fährt der Bus ab“, habe man ihr gesagt. Abfahrtszeiten gibt es aber in Spanien nicht. Wir verabschieden uns, ich versorge mich in einem nahegelegenen Lädchen mit etwas Essbarem. Als ich hinauskomme, steht die Arme immer noch da – ein Bus ist weit und breit nicht zu sehen.

Ich schaue nach einem guten Platz für ein Picknick und gehe um die Kirche herum. Unversehens stoße ich auf die Pilgerherberge und lasse mich am Eingang auf einer Bank nieder. Als ich am Kauen bin, fängt es auch noch an zu nieseln. Kurz darauf erscheint die junge Frau mit den verbundenen Füßen, die ich vor Liendo im Wald überholt habe. Sie hat sich in einer Bar den Schlüssel für die Herberge organisiert. Wir machen uns bekannt: Vicky kommt aus Kanada.

Vicky will heute hier übernachten – genauso wie Ken und Mizuho, die kurz darauf eintreffen und ebenfalls in Liendo bleiben wollen. Ich schmeiße eine Runde Orangensaft und nutze die offene Herberge, um die Wasserflasche aufzufüllen und der Keramikabteilung einen Besuch abzustatten. Dann mache ich mich auf den Weg nach Laredo. Gabriela steht immer noch an der Kirche und wartet auf den Bus…

Ich bin erstaunt, wie groß Liendo ist – und welch prachtvolle Gebäude hier stehen. Der Ort scheint einst ein bevorzugter Wohnort der Reichen und Schönen gewesen zu sein. Vom frü- heren Glanz zeugen zahlreiche Villen, die in weitläufigen Parkanlagen stehen. Wie ich an den Jahreszahlen, die sich bisweilen auf den Torbögen finden, ablesen kann, stehen manche Häuser schon seit mehr als 150 Jahren. Einige wenige Häuser sind renoviert und dienen nun als Nobelhotel, an anderen Palästen nagt weiterhin ungeniert der Zahn der Zeit. Was könnte man aus diesen Häusern alles machen, denke ich, während ich an der einstigen Pracht entlangflaniere.

Trotz des bescheidenen Wetters habe ich mich entschieden, eine im Buch empfohlene Alternativroute zu wählen. Die Route sei nur lückenhaft mit Pfeilen ausgezeichnet, steht im Führer. Dafür wird dem Pilger ein herrlicher Panoramablick auf die Bucht von Laredo versprochen. Den will ich mir nicht entgehen lassen.

Doch zunächst muss ich die Alternativroute finden, und das ist gar nicht so einfach. Lange halte ich Ausschau nach der „unauffälligen, eher modernen Kapelle von San Julián“, wie es im Führer heißt. Ich bin wohl in der richtigen Straße, das steht fest – aber eine Kapelle ist weit und breit nicht zu sehen. Am Ende der Straße kehre ich um – es ist sicher besser, irgendjemand nach dem Weg zu fragen. Nur wen? Die Gegend ist wie ausgestorben – offenbar halten alle Bewohner ihren Siesta-Schönheits-Mittagsschlaf.

Da ertönt plötzlich ein gruseliger Lärm. Es klingt, als habe jemand drei CD-Player gleichzeitig eingeschaltet – aber mit verschiedenen Liedtiteln. Eine erneute Demonstration? Unwahrscheinlich, hier auf dem Land. Kurz darauf biegt ein Auto um die Ecke, auf dem Dach ein Lautsprecher, aus dem die Kakophonie herausquillt. Ich stoppe den Wagen mit einem Handzeichen. Der Fahrer hält tatsächlich an – und schaltet glücklicherweise auch den Lärm auf dem Dach aus. Im Kofferraum des Kombis liegen Lebensmittel – offenbar handelt es sich um einen mobilen Verkaufsstand. Ich frage mit meinem Acht-Wochen-Spanisch nach dem Weg – und ernte ein Schulterzucken: Der Fahrer kennt sich hier offensichtlich auch nicht aus…

Ich laufe zurück bis zur letzten Kreuzung – und stelle fest, dass ich wohl richtig bin. Bald darauf stehe ich wieder am Ende der Straße. Da fällt mir plötzlich ein kleines Häuschen ins Auge; an der Wand hängt ein Andachtsbild. Das soll wohl San Julián sein. Diese Hundehütte hätte ich nie als Kapelle bezeichnet, denke ich. Wenigstens weiß ich jetzt, dass ich richtig bin. Ich stapfe den Hügel hinauf und lasse bald die Häuser von Liendo hinter mir. Die „unwegsame Piste“ führt „steil bergauf zur Ruine“, die „malerisch und einsam vor dem mächtigen Bergmassiv von Candina“ liegt. So steht es im Führer.

Steil und unwegsam ist es, das ist nicht abzustreiten, das Bergmassiv ist ebenfalls nicht zu übersehen. Fehlt nur noch die Kapellen-Ruine. Oben sehe ich ein verfallenes Gebäude, das allerdings eher wie eine Fabrikhalle aussieht. Ich gehe weiter bergauf und stehe bald darauf an der Felskante. Links ragt ein etwas skurril anmutender Betonturm in den Himmel, unter mir tobt der Atlantik, vor mir liegt die Halbinsel von Buciero, die ich morgen umrunden will. Der Ausblick ist grandios, aber in Sachen Weg ist hier Endstation. Welche Abzweigung habe ich denn jetzt schon wieder verpasst? Ich drehe mich um und gehe den Weg zurück, bis mir zwei Pilger entgegenkommen – ein Pärchen aus Bochum, wie ich bald darauf erfahre.

Die beiden Studenten sind ebenfalls in Irun gestartet und wollen noch bis Santander, bevor der Flieger in Richtung Hei- mat abhebt. Vor ein paar Jahren sei er den Camino del Norte von Santander bis Santiago gelaufen, verrät mir der junge Mann. Dann habe er gehört, dass er den schönsten Teil des Weges – eben den von Irun nach Santander – verpasst habe. Nun will er sich mit seiner Freundin davon überzeugen, ob die Behauptung stimmt. „Es ist tatsächlich so, der Weg durchs Baskenland ist der schönste Teil des Camino“, bestätigt er mir.

An einem Zaun finden wir dann einen winzigen gelben Pfeil, der uns nach links den Berg hinaufschickt. Zu dritt stapfen wir weiter. Die Beiden erzählen mir, dass sie am Vortag per Telefon zwei Betten in Laredo reserviert haben – in der Albergue „Buen Pastor“. Ich bin elektrisiert. Reserviert? In der Herberge will ich doch auch absteigen. Kann man da reservieren? Meine Bitte, mit meinem Handy dort anzurufen und auch für mich ein Bett zu sichern, stößt bei den beiden auf moderate Begeisterung, um nicht zu sagen schweigende Ablehnung – und hilft mir dabei, meine aufkeimende Angst in Sachen „Completo“ einzudämmen. Es wird schon klappen, wenn es klappen soll, denke ich.

Endlich sind wir oben angekommen – und wissen nun, warum wir den Umweg gelaufen sind: Wir werden tatsächlich mit einem herrlichen Panoramablick belohnt. Unter uns liegt Laredo, dahinter erstreckt sich der halbkreisförmige, kilometerlange Strand. In der Ferne sehen wir Santoña. Der Pfad führt durch eine von kleinen Felsen übersäte Wiese. Dann geht es wieder bergab, der Stadt entgegen. Wir bewundern alte Steinmauern, durchschreiten ein Eisentor und passieren eine Hausruine.

Einige Hunde am Wegesrand stehen auf, als sie uns sehen. Wir recken die Hälse: sind die Tiere angeleint oder handelt es sich um freilaufende Straßenköter, vor denen im Führer immer mal wieder gewarnt wird? Mir fällt wieder ein, dass Ruth, die junge Frau aus Barcelona, mit der ich mich an der Kapelle St. Martin bei Orio so nett unterhalten habe, später von einem Hund gebissen wurde. Der junge Student schnappt sich einen seiner Trekkingstöcke, um notfalls seinem Unmut über den vierbeinigen Besuch mit schlagkräftigen Argumenten Ausdruck zu verleihen. Ich hebe in Ermangelung eines Trekkingstocks einen Stein auf.

Doch die Sorge ist unbegründet – vorerst zumindest. Die Hunde lassen uns bald in Ruhe, stattdessen folgt uns nun ein kleines schwarzes Ferkel. Von der Steckdose mit Ohren geht sicher keine Gefahr aus. Das Muttertier, ein imposantes Hausschwein, das dem kleinen Ferkel auf den Fersen ist, sieht dagegen nicht so vertrauenserweckend aus. An tierische Mütter mit Kind habe ich schlechte Erinnerungen, nachdem mich in meiner Teenagerzeit mal ein Zirkuspferd in die Schulter gebissen hat.

So ein ärgerliches Hausschwein hat sicher auch einen netten Biss, vor allem wenn es seinen Nachwuchs in Gefahr sieht. Wir nehmen also die Beine in die Hand, was nicht minder gefährlich ist. Denn der Hohlweg in Richtung Laredo ist mit einem „jahrhundertealten, heute halsbrecherischen Pflaster“ ausgestattet, wie der Führer verrät. Der Nieselregen vom Mittag hat das Halsbrecherische des Weges nicht gerade entschärft. Und wir stürzen nun im Laufschritt bergab, auf der Flucht vor einem Schwein.

Schließlich wird das rosa Ungetüm langsamer und bleibt endlich stehen. Ob es uns nun genug gejagt hat? Ist der Respekt vor der Stadt größer als die Lust auf ein leckeres Pilger-Menü? Oder will es nur zurück zum Trog? Erleichtert legen wir die letzten Meter auf dem Hohlweg zurück und durchschreiten dann ein Stadttor.

Schnell stelle ich fest: Laredo ist eine einzige Baustelle. Überall graben sich Bagger durch den Untergrund. Offenbar wird gerade die Kanalisation erneuert, bevor in einigen Wochen die Touristenströme einsetzen. Den Führer immer vor der Nase, kämpfe ich mich durch die Gassen, auf der Suche nach der Herberge. Die ist aber ebenfalls sehr schwer zu finden. Eine Frau zeigt uns den Weg, und schließlich stehen wir zu dritt vor der Eingangstür. Wir klingeln, und kurz darauf öffnet uns eine ältere Frau. Aus der Tatsache, dass sie uns nicht gleich wegschickt, schließe ich, dass wohl noch ein Bett für mich vorhanden ist. Ich atme erleichtert auf. Nach der Anmeldeprozedur mit Stempel und Geldschein führt uns die Dame die Treppe hinauf. Ich fühle mich unwillkürlich in die Vergangenheit versetzt: Das Haus ist dekoriert wie ein Kloster in den 50er Jahren. Heiligenbildchen und -statuen zieren die Wände, und auch das übrige Ambiente ist nicht gerade taufrisch.

An unserem Zimmer angelangt, fragt die Herbergswirtin das Studentenpärchen aus. Ob sie verheiratet seien, will sie wissen. Als die beiden den Kopf schütteln, öffnet sie die Tür und weist uns die Betten zu. Die Studentin soll in einer Ecke des Zimmers schlafen, die durch einen Vorhang von den drei übrigen Betten getrennt ist. Ich muss grinsen: Ich kenne das Zimmer. Es ist genau dasselbe, in dem vor einigen Jahren eine Pilgerin aus der Schweiz genächtigt hat, deren Internetblog ich zuhause verschlungen habe.

Auf dem Flur begegnet mir der Pilger aus Köln, den ich zu- letzt in der Herberge in Castro getroffen habe. In Unterhosen huscht er aus dem Bad und verschwindet in unserem Zimmer. Ich dusche und nehme dann die übrigen Räume der Albergue in Augenschein. Es gibt eine Art Wohnzimmer (der einzige Raum, in dem das Wlan funktioniert), einen Essensraum und eine Küche mit Kühlschrank, Herd und Backofen. Ein Backofen! Ich bekomme riesige Lust auf eine Fastfood-Pizza und mache mich auf den Weg in die Stadt, eine Alimentation suchen. Kurz darauf stehe ich – zum wiederholten Mal auf dem Camino – in einem Lädchen Marke Chinatown und erstehe eine Pizza aus dem Kühlregal und ein paar Dosen Cerveza.

Als ich die Pizza verdrückt und ein paar Bilder in die Heimat geschickt habe, gehe ich erneut in die Stadt. Zunächst zieht es mich zur Kirche Santa María, doch auch hier soll ich Eintritt bezahlen, um am Tabernakel Hallo zu sagen – ein Unding. Die Frau an der Kasse sagt mir, dass die Abendmesse in der Konventkirche des Klosters stattfinden wird. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich noch Zeit habe. Ich beschließe, zum Strand zu gehen.

Einige Minuten später stehe ich an der Strandpromenade. Es ist gerade Ebbe, das Meer hat sich rar gemacht. Ich gehe barfuß bis zur Wasserkante und schaue sorgenvoll zum Bergmassiv des Buciero hinüber, das sich unter die tiefhängende Wolkendecke duckt. Morgen will ich unbedingt den Umweg um die Halbinsel gehen, doch wenn das Wetter zu schlecht ist, dann ist das keine gute Idee, wie ich aus dem Blog der Schweizerin weiß.

Wieder hadere ich mit meinem Schicksal: Warum ist das Wetter so schlecht? Ich habe mich doch so auf die Wanderung um den Buciero gefreut. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da reißt die Wolkendecke auf und die Sonne schickt ein paar Strahlen auf meine Nasenspitze. Mit frohem Herzen sende ich ein Dankgebet nach oben und freue mich an den glitzernden Meereswellen, die zu meinen Füßen sanft ausrollen. Vielleicht klappt es morgen doch noch mit meinen Plänen…

Ich gehe zurück und stehe bald darauf vor der Tür der Franziskanerkirche. Das Gotteshaus ist gut gefüllt. Schon beginnt die Messe, untermalt vom Gesang der Nonnen, die hinter einem Gitter auf der rechten Seite der Messe beiwohnen. Das Singen hat so gar nichts Mittelalterliches an sich, die Gitarrenbegleitung erinnert mich eher an das Lagerfeuer eines Pfadfindertreffens. Dennoch fühle ich mich wohl, dankbar dafür, dass Gott mich die Abenteuer dieses Tages hat gut überstehen lassen.

Nach der Messe gehe ich nach vorne zum Altar, um den Pilgersegen zu empfangen. Der Priester fragt jeden, woher er kommt. „Alemania“, antworte ich, und höre kurz darauf, wie eine Frau hinter mir „Alaska“ zur Antwort gibt. Ich drehe mich um: Vor mir steht Moira. Wir fallen uns in die Arme. Zum Andenken überreicht uns eine Nonne ein selbstgebasteltes Kreuz aus Pappe mit dem Namen des Klosters.

Draußen vor der Kirche treffe ich weitere Pilger: Gabriela steht dort (ihr Bus ist tatsächlich noch an der Kirche in Liendo aufgetaucht), und ein junger Mann mit Namen Markus, den Gabriela und Moira heute kennengelernt haben. Wir beschließen, gemeinsam essen zu gehen.

Doch zuvor darf ich noch einen Blick in die Klosterherberge werfen. Das Haus ist alt, die Einrichtung einfach, aber die Albergue hat Flair. Gemeinsam schlendern wir durch die Altstadt, auf der Suche nach einer Bar, in der wir ein Pilgermenü erhalten. Doch das ist gar nicht so einfach: viele Restaurants sind geschlossen. Bei einigen Bars ist dies wohl entweder auf die für Spanier frühe Uhrzeit oder die Vorsaison zurückzuführen; bei anderen Bars – vor allem am Rand der Altstadt – zeugen Schilder an der Tür davon, dass der Besitzer wohl kapituliert und den Laden dichtgemacht hat.

Schließlich finden wir ein Restaurant, das zwar keine Pilgermenüs anbietet, aber wenigstens geöffnet ist und eine halbwegs „normale“ Karte anbietet. Damit ist die Bar gegenüber den anderen Restaurants im Umkreis klar im Vorteil, in dem es nur Touristenfraß à la „vertrockneter Schweinerücken mit Spiegelei und Salatblatt“ gibt.

Wir bestellen – und staunen nicht schlecht, als sich Moiras Anchovi-Teller als Fehlinvestition entpuppt: In einer Lache Öl liegen zehn tote Sardellen. Zehn Euro sind dafür kein stolzer Preis mehr, sondern schon eine Unverschämtheit. Das übrige Mahl dagegen ist essbar, und der Vino tinto sogar vorzüglich. Markus, der sich zunächst an unserem Tisch niedergelassen hatte, steht auf und verlässt mit den Worten „Ich glaube, ich brauche jetzt eine Pizza“ das Lokal.

Wir verbringen einen tollen Abend miteinander. Dann müssen wir aufbrechen, denn es geht auf 22 Uhr zu: Auch im Kloster herrscht ein strenges Regiment – die Nachtruhe steht unmittelbar bevor. Da bin ich mit meinem Schlüssel für die Albergue fein raus. Wir lassen uns noch einmal auf einer Parkbank vor dem Kloster nieder, knabbern ein paar Chips, trinken noch eine Cerveza, scherzen und lachen und schießen ein paar Fotos, bevor uns die Betten rufen.

Ich steige die Treppe hinauf, betrete unser Zimmer. Der Kölner hat mit Waldarbeiten begonnen, das Studentenpärchen liegt ebenfalls in Morpheus’ Armen – jedenfalls zu 50 Prozent: Der junge Mann ist bereits weggenickt, seine Freundin steckt noch ihre Nase in ein Buch. Ich strecke mich unter der Decke aus – dankbar für diesen weiteren erfüllten Camino-Tag.

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

 

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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