Tag 22: Rückreise nach Santander / Rückflug nach Deutschland
Ein Fahrkartenautomat? Fehlanzeige! In Piñeres wird das noch nach alter Väter Sitte geregelt: In einem winzigen Räumchen sitzt ein uniformierter Mann hinter einer Glasscheibe. Der Herr der Tickets! Ich denke an meine Schulzeit zurück, als ich meine Monatskarte für den Zug an einem ebensolchen Schalter erstanden habe. Mit meinem Acht-Wochen-Spanisch frage ich den Herrn, was eine Fahrkarte nach Santander kostet. Wieder einmal bin ich erstaunt, wie günstig in Spanien der ÖPNV ist – nicht mal zehn Euro muss ich für die Fahrt bezahlen. In Deutschland käme ich damit nicht weit.
Ich krame das Fahrgeld aus der Geldbörse und lege es dem Mann vor die Nase. Entgeistert schaut mich der Uniformierte an und überschüttet mich mit einem spanischen Wortschwall. Ich verstehe nur Bahnhof (guter Witz, was?). Als er mein ahnungsloses Gesicht sieht, greift er sich mit einem Seufzer einen Stift und einen Notizblock und schreibt eine Uhrzeit auf: Um 10.20 Uhr kommt der Zug nach Santander. Ich nicke; das weiß ich, das habe ich gestern schon im Internet nachgeschaut. Dann schreibt der Mann eine weitere Uhrzeit auf den Zettel: 10.10 Uhr.
Ich weiß immer noch nicht, was der Mann von mir will, und lasse erkennen, dass ich nichts verstanden habe. Ein wenig genervt lässt er einen weiteren spanischen Wortschwall auf mich niederregnen. Dann greift er nach rechts, zieht an einer Schnur und lässt eine Jalousie die Glasscheibe hinuntergleiten. Kaum ist sie unten, zieht der Bahnhofswärter sie wieder hoch, zeigt auf seine Uhr, sagt irgendwas von zehn Minuten und lässt den Rollo wieder nach unten sausen. Diesmal bleibt er allerdings unten.
Ich stehe ein wenig konsterniert da, bis es plötzlich in meinem Hirn „pling“ macht – der Groschen ist gefallen. Der Fahrkartenschalter öffnet immer nur zehn Minuten vor Ankunft des Zuges. Ich schüttele den Kopf – in der Zeit, die er für seine weitgehend erfolglosen Erläuterungen gebraucht hat, hätte der Mann ein Dutzend Fahrkarten verkaufen können.
Ich sammele mein Geld ein, schnappe mir den Rucksack und trete wieder hinaus auf den Bahnsteig. Die Sonne scheint schön warm, ich setze mich auf eine Bank und behalte die Uhr im Auge – ich will auf keinen Fall den Zug verpassen, denn heute – am Samstag – gibt es nicht viele Verbindungen.
Als eine Gruppe junger Männer auftaucht, werde ich ein wenig unruhig: Wenn die auch noch alle Fahrkarten kaufen wollen, wird das knapp mit den zehn Minuten. Also baue ich mich wieder vor dem geschlossenen Rollo auf und warte. Und warte. Auf die Minute genau zehn Minuten vor der Abfahrt meines Zuges surrt die Jalousie wieder nach oben. Der Bedienstete schaut mich fragend an – und ich schaue irritiert zurück. Hat der Mann wirklich innerhalb weniger Minuten vergessen, was mein Fahrtziel ist?
„Nach Santander, bitte“, wiederhole ich mein Anliegen. Der Bahnhofswärter sammelt mein Geld ein und schiebt mir endlich den Fahrschein unter der Glasscheibe durch. Als die vier jungen Männer hinter mir den Raum betreten, beginnt der Uniformierte, nervös auf die Uhr an der Wand zu schauen. Ich kann mir ein wenig Schadenfreude nicht verkneifen: Jetzt wird es wohl doch ein wenig knapp. Naja, aber die Vorschriften…
Zwei Stunden vorher hatte ich nach einer ruhigen Nacht gegen 8 Uhr die Augen geöffnet – und dabei festgestellt, dass bis auf Ilona und Nils alle anderen Pilger bereits aufgebrochen waren. Wir haben in aller Seelenruhe unsere Rucksäcke gepackt. Dann hieß es Abschied nehmen: Zunächst machte sich Nils auf den Weg, dann brach auch Ilona auf. Wir haben uns gedrückt, dann habe ich Ilona „Buon Camino“ gewünscht, und dann war sie weg. Ein komisches Gefühl, so ganz alleine.
Ich habe meinen Rucksack geschnappt und mich auch zum Aufbruch bereitgemacht. Die blaue Trinkflasche aus Pasaia habe ich schweren Herzens dem Abfalleimer anvertraut, und nach kurzem Überlegen habe ich auch das „Geschenk des Himmels“, den Trekkingstock, der mir kurz vor Noja unverhofft zur Hilfe gekommen ist, an der Wand hängen lassen. Vielleicht freut sich ja ein anderer Pilger darüber…
Dann bin ich ebenfalls losgelaufen – oder sagen wir eher gehumpelt; das Schienbein zwang mich dazu. Am Tor wendete ich mich nach links in Richtung Nueva, in Richtung Bahnhof. Wehmut erfasste mich – Kopf und Herz wollten nicht umkehren, sondern weiter in Richtung Santiago. Mir liefen die Tränen über die Wangen – weil der Camino nun für mich zu Ende ging. Der Weg nach Nueva war beschwerlich – aber das hatte ich mir ja am Vortag selbst eingebrockt. Also biss ich auf die Zähne und erreichte schließlich den Bahnhof.
Ratternd fährt der Zug in den Bahnhof von Nueva ein. Der Uniformierte hat seine Glaszelle verlassen und sich noch ein Mützchen aufgesetzt. Ich steige ein. Die Waggons sind alles an- dere als luxuriös. Ich hatte einen Fernzug erwartet – schließlich wird die Fahrt nach Santander zwei Stunden dauern. Stattdessen sieht der Zug eher aus wie eine S-Bahn oder eine Metro. Dass die Sitze hart und verschlissen sind, macht mir nichts aus. Dass die Fenster verkratzt und voller Graffiti sind, schon mehr. Schließlich will ich während der Fahrt aus dem Fenster schauen und vielleicht noch einige bekannte Ecken wiedersehen.
Nach einigem Suchen finde ich ein Plätzchen, das auch einen Blick nach draußen zulässt. Kurz darauf steht der Schaffner vor mir und kontrolliert das Zugticket. Dann fragt er mich, wohin ich möchte. „Santander“, antworte ich. Der Schaffner notiert etwas in ein Büchlein und wendet sich dem nächsten Fahrgast zu. Dort folgt die gleiche Prozedur. Nach und nach klappert der Bahnangestellte alle Fahrgäste im Abteil ab – und die Liste in seinem Notizbuch wird immer länger. Wofür braucht er nur diese Angaben?
Erst einige Zeit später ahne ich, was der Aufwand soll. Der Zug hält offensichtlich nur an den Stellen, an denen jemand ein- oder aussteigen will. So wie bei einem Linienbus in der Heimat, nur ohne „Halt“-Taste. Anscheinend geben die Bahnhofswärter dem Lokführer auch durch, wo jemand einsteigen will – nur so ist zu erklären, dass der Zug in einigen winzigen Käffern hält, durch manche größere Orte aber durchbrezelt, ohne zu stoppen.
Ich mache es mir so gut es geht auf dem Sitz bequem und gönne meinem Schienbein erstmal eine Ladung Salbe, die ich zuvor noch in einer Apotheke in Nueva erstanden habe. Dann rollt der Zug in Llanes ein – ich denke an die Nacht in der Bahnhofsherberge zurück. Plötzlich steht wieder der Schaffner vor mir und erklärt mir, dass ich aussteigen soll. Ich bin irritiert: Ich will nach Santander, antworte ich. Jaja, nach Santander müsse ich umsteigen. Aha, denke ich, als ich mich von meinem Platz erhebe. Davon stand gar nichts auf dem Fahrplan…
Auf dem Bahnsteig geht die Verwirrung weiter. In welchen Zug muss ich denn jetzt einsteigen? Einige Fahrgäste betreten den Zug auf dem Gleis gegenüber. Das ist mir nicht geheuer, schließlich weiß ich gar nicht, ob das der richtige Zug ist. Also bleibe ich auf dem Bahnsteig stehen. Ein paar Minuten später fährt ein weiterer Zug in den Bahnhof ein. Der Schaffer ruft „Santander“, und ich entere einen Waggon. Hinter mir bricht hektisches Treiben los, als einige Fahrgäste aus dem Zug gegenüber herausstürzen und in „meinen“ Zug einsteigen. Keine Minute zu spät, denn schon rollt der andere Zug zurück in Richtung Nueva, und unser Zug setzt sich in Richtung Santander in Bewegung.
Nach einigem Überlegen hatte ich mich gestern entschieden, mit der Bahn bis Santander zu fahren, und die Option verworfen, ab Llanes den Bus zu nehmen. Erstens wollte ich mit meinem lädierten Bein nicht durch Llanes irren, auf der Suche nach dem Busbahnhof. Und zweitens wollte ich nicht stundenlang den Straßenrand der Autobahn anschauen, sondern noch ein wenig von der Landschaft genießen.
Ich werde nicht enttäuscht: Zwar führt die Strecke nicht ganz so lange und oft am Meer entlang wie erhofft, dennoch kann ich auf dem Weg bis Santander so manche bekannte Stelle wieder- entdecken. Ich sehe noch einmal den Strand beim verlassenen Kloster San Antolín de Beón, ich passiere den Bahnhof bei Pesués, an dem ich mich verlaufen hatte, ich genieße bei strahlendem Sonnenschein noch einmal den herrlichen Küstenweg bei Pendueles (hier fährt die Bahn sehr dicht am Meer vorbei), ich rattere über die „verbotene“ Brücke bei Mogro, ich kann noch einmal einen Blick auf die Herberge in Santa Cruz de Bezana werfen, und schließlich bin ich wieder in Santander.
Bis zum Abflug habe ich noch fünf Stunden. Irgendwann werde ich noch etwas essen müssen, aber jetzt will ich erstmal an den Strand. Es ist schönes Wetter, die Sonne scheint, und eigentlich habe ich Lust, zum Strand zu laufen. Aber das Schienbein sieht das anders und teilt mir mit, ich solle bloß den Bus nehmen. Also gehe ich wieder durch den Tunnel, in dem der kuriose Flohmarkt stattgefunden hat, und stehe kurz darauf an der Bushaltestelle.
Diesmal ist es nicht so schwer, den richtigen Bus zu finden. So ziemlich alle Linien fahren am Strand vorbei. Allerdings dauert es eine Weile, bis der nächste Bus kommt. Dann ist es soweit und ich quetsche mich mit meinem Rucksack zwischen die anderen Fahrgäste. Die Fahrt kostet mich nur ein paar Groschen, denn der Busfahrer ist nicht amused über den 20-Euro-Schein, den ich ihm entgegenstrecke. Also schütte ich die verbliebene kümmerliche Münz-Barschaft vor die Nase, und er winkt mich durch. Dann gibt er Gas. Die Fahrweise erinnert mich an Rom – auch dort sind die Busfahrer ähnlich rasant unterwegs.
Der Bus ist proppevoll – viele Menschen haben Taschen mit Badetüchern über der Schulter. Auch auf den Bürgersteigen flanieren zahlreiche Spanier mit ebensolchem Gepäck. Offensichtlich hat sich halb Santander entschieden, den Samstag Nachmittag am Strand zu verbringen. Ich bin noch nicht sicher, welchen der Stadtstrände ich wählen soll. Nur eines ist klar: den Sardinero nicht, den habe ich ja schon am Abend meiner Ankunft bewundert.
Bald kommt das Meer in Sicht, und kurz darauf spuckt der Bus die meisten Fahrgäste aus – mich eingeschlossen. Vor mir liegt ein wunderschöner Strand mit Namen La Magdalena. Von der Form her erinnert er mich an die tollen Buchten in Asturien: Der halbkreisförmige Sandstrand wird von Steinen umarmt, zudem liegt ein imposanter Felsen im Wasser. Hier will ich bleiben. Ich hinke die Treppe hinunter auf den Sand, lege den Rucksack ab und mache es mir bequem.
So ein richtiges Relax-Feeling will sich aber nicht einstellen. Irgendwie bin ich immer noch im Pilgermodus, möchte eigentlich weiterlaufen, statt hier faul herumzuliegen. Ich stehe auf und strecke die Füße ins Wasser. Brrr, ist das kalt. Die Wassertemperatur passt nicht so wirklich zu dem strahlenden Sonnenschein – aber ich bin ja auch nicht am Mittelmeer, sondern am Atlantik. Zudem habe ich ein schlechtes Gefühl dabei, meinen Rucksack so allein zu lassen, also kehre ich zu meinen Habseligkeiten zurück.
Nach einer Weile habe ich keine Lust mehr auf das Zwitterdasein – halb Pilger, halb Badetourist, aber nichts davon richtig. Ich entscheide mich, auf die Suche nach etwas Essbarem zu gehen. Wieder erstaunt es mich, dass es rund um die Strände keinerlei Möglichkeit gibt, sich die Hand mit etwas Leckerem zu füllen…
Ich humpele ein paar hundert Meter weiter und stehe am nächsten Strand. Hier gibt es ein Nobelrestaurant, dessen Preise mir fast den Hunger vertreiben. Ich bleibe ein wenig stehen und genieße den Blick auf das gegenüberliegende Ufer. Dort liegt Somo, dort bin ich vor genau einer Woche mit Kyle auf der Fähre nach Santander übergesetzt. Es kommt mir vor, als sei es eine Ewigkeit her. Wo Kyle, Rainer, Ilona, Gabriela, Moira und die anderen Pilger jetzt wohl sind? Wieder muss ich mit den Emotionen kämpfen. Wie schön wäre es gewesen, in drei Wochen in Santiago zu sein. Ich schiebe die Gedanken beiseite – das Glas ist schließlich halbvoll, nicht halbleer. Es war eine schöne Zeit auf dem Camino, und ich freue mich ja auch, meine Familie wiederzusehen.
Ich überlege, ob ich nicht an der Uferpromenade zurück in die Stadt laufen soll. Lust hätte ich dazu, aber schafft das auch mein Bein? Ich versuche es ein kurzes Stück, dann gebe ich auf und humpele zur Bushaltestelle zurück. Eine halbe Stunde später stehe ich wieder vor dem Rathaus. Auf dem Platz davor ist irgendein Fest – eine Bühne ist aufgebaut, auf der eine Band versucht, Musik zu machen. Vor der Bühne ist gerade eine Rollerskate-Vorführung im Gange.
Ich besorge mir in einer Seitenstraße etwas zu essen, mache mich dann auf einer Bank breit und schaue dem bunten Treiben zu. An einigen Stellen sind Spiele für Kinder aufgestellt, die meisten davon sind mit viel Einfallsreichtum und Liebe zum Detail selbst gebaut. Der Lärm ist ohrenbetäubend – Spanien eben.
Als ich gerade fertiggegessen habe, kommt eine Frau auf mich zu und drückt mir mit einem Lächeln einen Flyer in die Hand. Was ist das? Werbung für eine Stehpizzeria? Infos über den Veranstalter des Festes? Ein Spendenaufruf? Nein, es handelt sich um den Handzettel einer evangelikalen Gemeinde in Santander. Viel verstehe ich nicht von dem, was da alles geschrieben steht. Doch ein Satz auf der Titelseite fesselt mein Interesse – es ist ein Bibelvers aus dem Johannes-Evangelium: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ „Yo soy el camino, y la verdad, y la vida“, lese ich. Da ist es wieder: Camino de la Vida!
Ich lasse meine Gedanken schweifen, denke an die vielen schönen Erlebnisse auf diesem Camino zurück. Mein Herz füllt sich mit Dankbarkeit. Dank, dass ich das alles erleben durfte, dass meine Familie drei Wochen lang auf mich verzichtet hat, Dank auch für den Frieden, den ich in meinem Herzen spüren darf. Ich merke, dass dies so etwas wie ein Schlusspunkt ist – der Camino ist zuende. Jetzt beginnt die Heimreise.
Ich schaue auf die Uhr: So langsam sollte ich mich auf den Weg zum Busbahnhof machen. Bis zum Abflug ist zwar noch reichlich Zeit, aber ich weiß nicht, in welchem Takt die Busse fahren, zudem bin ich mit dem lädierten Bein ja derzeit langsamer als ein Regenwurm. Ich schlage den gleichen Weg ein, den mir vor einer Woche die hilfsbereite Frau gewiesen hat. Am Busbahnhof angekommen, nehme ich auf einer Bank Platz und nutze das freie Wlan der anderen Busse, um eine Nachricht und noch ein paar Fotos nach Hause zu beamen.
Dann fährt der Shuttlebus zum Flughafen vor. Ich zahle meinen Obolus, platziere den Rucksack in dem Metallgestell und suche mir einen Sitz, von dem aus ich nach draußen sehen kann – was wieder mal nicht so einfach ist, da die meisten Fenster mit irgendeiner Werbung verklebt sind. Nur noch ein weiterer Fahrgast entert den Bus, dann schaukelt das Gefährt los. Ich genieße die letzten Blicke auf die „Skyline“ von Santander, auf den Hafen mit seinen Kränen und natürlich auf das Meer. Dann kommt schon der Flughafen in Sicht.
Das Terminal ist menschenleer. Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass ich viel zu früh da bin. Noch mehr als zwei Stunden dauert es, bis der Flieger in die Heimat abhebt. Da war ich wohl ein wenig zu ungeduldig – oder besser nervös – und hätte doch noch etwas länger in Santander bleiben können. Mit dem Bein wäre es aber kaum mehr möglich gewesen, noch etwas durch die Stadt zu flanieren.
Also nehme ich es, wie es kommt, und setze mich in das Flughafen-Café. An einer Säule finde ich eine freie Steckdose, um das iPhone zu besaften, dann genehmige ich mir einen ebenso spottbilligen wie superleckeren Kaffee. Und dann noch einen. Langsam treffen weitere Passagiere ein, am Nebentisch wird (ost-)deutsch gesprochen. Ich bitte eine der Damen, auf meinen Rucksack aufzupassen, und suche dann die Keramikabteilung auf, um eine lange Hose anzuziehen. Im Terminal ist es kühl, wohl wegen der Klimaanlage. Draußen dagegen ist es noch schön warm, wie ich bei einem kleinen Ausflug nach draußen feststelle. Ob ich mich da nochmal irgendwo hinsetzen soll?
Das Ambiente dort ist allerdings alles andere als angenehm, also trolle ich mich wieder in Richtung Café. Plötzlich trifft eine ganze Busladung voller Passagiere ein, die alle sogleich die Sicherheitsschleuse entern. Damit hätte ich nicht gerechnet, bis eben war hier absolute Flaute. Jetzt muss ich mich doch noch sputen, um nicht den Flug zu verpassen. Ich stelle mich also in die Schlange, doch meine anfängliche Sorge ist unbegründet, denn die Abfertigung geht doch ziemlich flott. Nach erneuter Wartezeit am Gate sitze ich endlich im Flieger auf meinem Platz. Allerdings wahrscheinlich wieder auf der falschen Seite – irgendwie muss ich bei der Sitzplatz-Reservierung vor ein paar Tagen auch diesmal einen Denkfehler gemacht haben. Ob ich heute die Küste bewundern darf?
Als der Flieger nach dem Start eine Schleife fliegt, darf ich noch einmal einen Blick auf das von der Abendsonne beschienene Santander werfen, das mir so ans Herz gewachsen ist. Werde ich wirklich wie geplant in 36 Monaten hierher zurückkehren, dann mit meinem Schatz an der Seite? Dann nimmt der Pilot Kurs aufs offene Meer – und ich stelle fest, dass die ganzen Grübeleien in Sachen Sitzplatz überflüssig waren: Rechts ist Wasser, links auch, das Festland hinter uns wird immer kleiner und ist schließlich kaum noch zu sehen. Offenbar nimmt der Flieger auf dem Rückweg eine andere Route.
Bis zur französischen Küste kann ich noch den strahlenden Sonnenschein bewundern, dann ist Schluss mit dem schönen Wetter: ganz Frankreich liegt unter einer einzigen flauschigen Wolkendecke. Ich lasse meine Gedanken schweifen, denke zurück an die vergangenen drei Wochen. Die Vorfreude, meine family wiederzusehen, wird immer größer.
Ein wenig früher als geplant setzt die Maschine auf der Landebahn im Hunsrück auf. Da ich ja nur Handgepäck habe, stehe ich kurz darauf in der Empfangshalle – und kann kurz darauf meine Lieben in die Arme schließen. Auf dem Heimweg wird erzählt und erzählt. Als der Wagen vor unserem Häuschen hält, wartet noch eine Überraschung auf mich: Die Kinder haben ein riesig langes Willkommens-Plakat gemalt, das nun an der Haus- wand prangt und mich warmherzig begrüsst. Ich bin wieder zuhause. Ich bin nicht mehr auf dem Camino del Norte. Aber ich bin auf dem Camino de la Vida.
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte