Tag 13: Von Laredo nach Noja (15 Kilometer)
Wasser von oben und Wasser von unten. Ich fühle mich wie in der Waschanlage, als ich wieder den Strand von Laredo erreiche. Vom Himmel prasseln Regentropfen auf meinen Poncho, unten stehe ich bis zu den Knöcheln im Salzwasser. Ich bleibe stehen und schaue durch die trübe Suppe hinüber zum Buciero-Massiv. Bei diesem Wetter kann ich es sicher abhaken, den Umweg um die Halbinsel zu laufen, denke ich. Trotzdem bin ich nicht enttäuscht – der Camino beginnt seine Wirkung zu entfalten.
„Ich nehme alles so, wie es kommt.“ Heute ist ein neuer Tag, um dieses Motto zu verinnerlichen und in die Tat umzusetzen. Das hat schon nach dem Aufwachen begonnen, als ich nach langem und tiefem Schlaf meine gewaschene Wäsche auf dem winzigen Balkon der Albergue Buen Pastor inspiziert habe. Wieder waren die Sachen nicht trocken geworden. Der Kölner Pilger hatte sein Bett schon geräumt, die Bochumer waren gerade am Zusammenpacken. Als ich aus der Tür der Herberge auf die Straße hinaustrat, lief mir Markus über den Weg – auf der Suche nach einer Bar, in der er frühstücken kann.
Nun stehe ich also am Strand. Die Seiten meines Führers werden feucht, als ich nochmal die Wegalternativen checke. Soll ich heute bis Güemes laufen oder doch – wie ursprünglich geplant – in Noja stoppen? Wenn ich tatsächlich den Buciero umrunden will, dann ist es viel zu weit bis nach Güemes. Aber auch, wenn der Umweg nicht möglich sein sollte, reizt es mich, in Noja Station zu machen. Immer wieder wird im Internet der Strand dort als einer der schönsten des ganzen Camino del Norte gepriesen.
Ein Sonnenstrahl reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist, als wollte Gott mich aufmuntern und mir sagen „Vertrau mir“, als es aufhört zu regnen und die Sonne hinter den Wolken hervorlugt. Ich entledige mich meines Ponchos und mache mich auf den Weg zur Spitze der Halbinsel La Puntal – von dort aus wird mich die Fähre nach Santoña bringen. Bis zur Überfahrt sind es aber noch rund fünf Kilometer am Strand entlang. Durch den Sand zu stapfen, sich das Wasser um die Füße laufen zu lassen – das gefällt mir bei jedem Wetter.
Ich finde ein paar Stöckchen, die das Meer angespült hat, und lege mir einen Pfeil in den Sand. Gelb ist er nicht, aber er weist mir den Weg. Den Weg nach Santoña, den Weg in Richtung Santiago, aber er ist auch ein Sinnbild für den Lebensweg: Immer weiter, voll Vertrauen.
Ich lasse mir beim Gehen bewusst Zeit. Zum einen will ich natürlich den Weg genießen, nicht hetzen, zum anderen möchte ich die Beine schonen, denn das Laufen über den nassen Sand ist anstrengend – und eine Sehnenreizung wäre das letzte, was ich jetzt noch brauche. Mein Blick schweift über die Häuserzeile an der Strandpromenade. Ein Hotel reiht sich ans andere. Ich kann mir gut vorstellen, wie voll der Strand in der Hauptsaison ist. Jetzt aber ist das Ufer wie ausgestorben, die Rolläden an den Fenstern der Hotels sind heruntergelassen.
Ich genieße die Einsamkeit an diesem Morgen. Eigentlich ist es ja eine Zweisamkeit, denn ich fühle mich Gott so nah. Egal ob es heute klappt mit dem Buciero oder nicht – ich bin auf dem Camino!!!
Es kommt mir endlos vor, bis ich die Landzunge erreiche, die sich Santoña entgegenstreckt. Von hier aus fährt das Boot ab, das mich auf die andere Seite bringen soll. Nur: von wo? Links sehe ich die letzten Häuser von Laredo stehen – wenn es einen Landungssteg gibt, dann wird er sich sicher dort befinden. Aber ich habe es ja nicht eilig, deshalb gehe ich noch ein gutes Stück weiter am Strand entlang, bis ich die Hafenpromenade von Santoña sehen kann. Dort hat gerade ein kleines rot-weißes Schifflein angelegt, an dessen Mast Wimpel im Wind flattern. Ich erkenne es sofort wieder, denn in meinem Führer ist ein Foto: das ist die Fähre.
Als ich quer über die Landzunge auf die andere Seite laufe, legt das Boot ab und kommt auf mich zu. Na, jetzt werde ich ja gleich sehen, wo es anlegt. Und wenn ich nicht rechtzeitig da bin – so what. Die Überfahrt wird nicht mehr als ein paar Minuten dauern, dann warte ich eben.
Doch die Gedanken sind überflüssig, denn das Boot hält zielstrebig auf seinen einzigen Fahrgast zu, bis es direkt vor mir am Ufer Anker wirft. Ein Matrose schiebt eine Art Gangway bis vor meine Füße. Ich entere das Deck. Kurz nach mir erreicht eine weitere Pilgerin die „Anlegestelle“ und steigt ein. Schon legt das Gefährt wieder ab und nimmt Kurs auf Santoña. Ich bezahle die Fahrkarte (2 Euro) und schieße ein paar Fotos.
Auf der anderen Seite angekommen, treffe ich an einer Bar das Pärchen aus Bochum wieder. Sie haben es sich auf dem Bo- den gemütlich gemacht; daneben sitzen noch zwei junge Spanierinnen. Sie blättern in ihrem Führer – und sehen genauso ratlos aus wie ich. Was tun? Soll ich es wagen, mich auf den Rundkurs um den Buciero zu machen? Mich reizt der Abstieg auf der „atemberaubenden Treppe mit fast 700 unregelmäßigen und teils verwitterten Stufen hinab zum Leuchtturm El Caballo“, von dem der Führer schwärmt. Andererseits muss ich an die Schilderungen der Pilgerin aus der Schweiz denken, die bei ähnlichem Wetter umdrehen musste, weil der Weg viel zu rutschig war.
„Gehst Du den Weg um den Buciero?“, höre ich eine Stimme fragen. Ich blicke von meinem Buch auf. Die beiden Spanierinnen schauen mich erwartungsvoll an. Ich ringe mich zu einer Entscheidung durch und antworte: „Ich glaube nicht. Das Wetter ist zu schlecht.“ Die beiden Spanierinnen nicken. Ich vertilge meine kümmerlichen Essensreste und mache mich dann auf den Weg.
Ich überlege, den Weg durch die Stadt barfuß zurückzulegen, will aber nicht dauernd auf das Pflaster vor mir starren. Also löse ich die Flip-Flops vom Bauchgurt des Rucksacks. Einen guten Kilometer später habe ich den Stadtrand erreicht. Auf der rechten Seite beginnt eine endlose Steinmauer, die von Stacheldraht bekrönt ist. Hier liegt das Gefängnis El Dueso. Vielleicht der einzige Knast Spaniens mit Meerblick, denke ich. Das Gefängnisgebäude schmiegt sich an einen Hügel, das Areal ist riesig. Ich muss einen weiteren Kilometer zurücklegen, bis ich das Ende der Gefängnismauer erreicht habe.
Bald darauf erreiche ich den Ortseingang von Berría. Der Führer empfiehlt, hier rechts zum Strand abzubiegen, was ich dann auch tue. Ich entledige mich wieder meiner Flip-Flops und freue mich, schon wieder so nah am Meer zu sein. Auf mich wartet nun ein weiterer kilometerweiter Gang am Strand entlang.
Ein großes, langgestrecktes Stück Holz in einer Ecke des Strandes weckt mein Interesse. Ich trete näher. Ob es sich um einen Telegrafenmast oder einen Schiffsmast handelt, kann ich nicht erkennen. Fest steht, dass es Strandgut sein muss, das hier angeschwemmt und dann von Arbeitern an die Seite geräumt wurde. Das Holz ist über und über bedeckt von Muscheln. Von zappelnden Muscheln, um genau zu sein. Solch seltsame Tiere habe ich noch nie gesehen: Aus einer keilförmigen Muschel ragen Körper mit Beinen heraus, die sich fast im Zeitlupentempo bewegen.
Mit einer Gänsehaut setze ich meinen Weg fort. Der Strand ist fast ausgestorben, sieht man von ein paar vereinzelten Spaziergängern ab. Gerne wäre ich mal ins Wasser gehüpft, aber dazu ist heute viel zu kühl. Rechts von mir leckt das Meer nach meinen nackten Füßen, links befinden sich ein paar wenn auch kümmerliche Dünen (da bin ich von der Nordsee anderes gewohnt) und vor mir, am Ende des Strandes, reckt sich ein imposanter Hügel gen Himmel. Über den muss ich rüber, weiß ich aus meinem Führer.
Nach rund anderthalb Kilometern Strandherrlichkeit stehe ich am Fuß des namenlosen Hügels, der den Strand von Berría vom Strand von Noja trennt. Der Weg verdient hier seinen Namen nicht, es ist nur noch ein Trampelpfad, der zwischen teils dornigem Gestrüpp steil hinauf führt. Der Pfad besteht größtenteils aus festgetretenem Sand, aus dem immer wieder einzelne Steine ragen. Ich entscheide mich, auch diesen Teil der heutigen Etappe barfuß zurückzulegen – so habe ich zwar weniger Grip, dafür merke ich aber genau, wo ich hintrete. Als ich die ersten Schritte den Hügel hinauf mache, fängt es an zu nieseln.
Das erste Stück komme ich gut voran, auch wenn das „Bergsteigen“ mit dem schaukelnden Rucksack kein wirkliches Vergnügen ist. Dann aber wird der Weg zunehmend rutschiger, immer wieder verliere ich den Halt – und komme nur noch im Zeitlupentempo weiter. Ich will auf keinen Fall stürzen – zumal das Meer nur ein paar Meter rechts von mir ist.
Dann aber ist Endstation: Ich komme einfach nicht mehr weiter. Der Nieselregen hat den Pfad noch rutschiger gemacht. Bei trockenem Wetter wäre ich längst oben und wohl schon auf der anderen Seite am Abstieg. Nun aber beschleicht mich – zum ersten Mal auf dem Camino – ein wenig die Angst. Was mache ich, wenn ich wirklich nicht weiterkomme? Muss ich dann auf allen Vieren hinaufkriechen? Und wie soll ich nur auf der anderen Seite den Hügel hinunterkommen – der Weg dort wird nicht weniger slippery sein.
Ich erinnere mich an den Trekkingstock, den Moira mir an der kritischen, weil matschigen Stelle im Wald bei Zenarruza ausgeliehen hat. Damit käme ich sicher besser voran. Diesmal aber ist weit und breit kein Pilger in Sicht – ich bin allein. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Wenn der Weg – respektive Gott – mir gibt, was ich brauche, dann wird er es auch jetzt tun. Mit neuem Vertrauen schaue ich mich nach einem Stock um. Leider gibt es weit und breit keine Sträucher, sondern nur diese niedrigen stacheligen Büsche – und die Äste sind zum Abstützen nicht geeignet.
Ich lasse meine Blick weiter schweifen – und traue plötzlich meinen Augen nicht: Links von mir, nur ein paar Meter entfernt, steckt in einem Busch ein Trekkingstock. Ich ziehe ihn heraus. Bestimmt hat ein Pilger ihn hier zurückgelassen, weil er gebrochen ist, denke ich. Es handelt sich um ein italienisches Fabrikat, ein dreiteiliger Teleskopstock. Das unterste Stück fehlt tatsächlich (und wird den Pilger bewogen haben, den Stock hier hineinzustecken), aber das mittlere Stück lässt sich problemlos herausziehen und festschrauben.
Überglücklich schicke ich dem Stoßgebet von vorhin ein Dankgebet hinterher. Dieser Trekkingstock ist wahrlich ein Geschenk des Himmels – und meine Rettung. Mit dem dritten Bein komme ich zwar langsam, aber stetig weiter bergauf, bis ich an der höchsten Stelle angekommen bin. Der Ausblick auf Küste und Meer ist grandios, ich habe aber nicht wirklich ein Auge dafür. Stattdessen inspiziere ich den Weg nach unten, der – wie befürchtet – noch ein wenig rutschiger ist als der Weg den Hügel hinauf.
Dennoch fließt mir das Herz über vor Freude: Ich habe einen Trekkingstock!!! Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und stütze mich immer wieder ab. Von hinten kommt eine Pilgerin mit einem Affentempo den Berg hinunter. Kunststück – sie hat Wanderschuhe an und zwei Stöcke dabei. Ob alles klar sei, fragt sie mich auf Englisch. Ich entgegne ein „Alright“, worauf sie weiterklettert und bald unten angekommen ist.
Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich auch den Strand von Noja erreicht. Ich bin grenzenlos erleichtert, dass ich den Hügel ohne Sturz bewältigt habe, und grenzenlos dankbar für meinen Stock, den irgendein Pilger-Engel an genau der richtigen Stelle zurückgelassen hat. Kurz denke ich darüber nach, den Stock am Strand zu deponieren – vielleicht kommt ja wieder ein Pilger vorbei, der über eine Steighilfe glücklich ist – auch wenn es dann die falsche Richtung wäre. Dann aber entscheide ich mich dafür, den Stock mitzunehmen – wer weiß, welche rutschigen Hügel noch auf mich warten.
Ich gehe weiter den Strand entlang – und treffe kurz darauf Vicky wieder. Sie ist in Begleitung einer älteren Frau, die ich bereits in Orio kennengelernt habe. Nora lebt in Malaga, stammt aber aus den USA und hat auch schon in Deutschland und Italien gewohnt und gearbeitet. Sie spricht neben ihrer Muttersprache fließend Spanisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. Sie wollen heute in der Herberge von Helgueras, vor den Toren Nojas, übernachten. Ich beschließe, ebenfalls dort abzusteigen – nach Güemes ist es mir jetzt zu weit, die Hügelnummer hat zu viel Zeit gekostet.
Wir gehen noch zwei Kilometer den Strand entlang. Da ich weiß, dass ich bald am Ziel bin, schlendere ich durch die Wellen, die sanft am Ufer ausrollen. Ich muss einige Mal einen großen Bogen laufen, weil immer wieder Felsen am Ufer stehen und der Wasserstand zu hoch ist, um drumherumzuwaten. Schließlich verlassen wir den Strand und stehen bald darauf vor einem blau angepinselten Häuserkomplex: die touristische Herberge von Helgueras.
Die „einfache, an vielen Stellen abgewohnte, vom Badetourismus geprägte Herberge“, wie es mein Führer formuliert, sei in der Badesaison oft mit lärmenden Jugendgruppen belegt. In der Tat scheint die Badesaison schon begonnen zu haben, denn auf dem Gelände tollen zahlreiche Jugendliche herum. Ich bin Trubel gewohnt und störe mich nicht an dem Treiben. Wir kämpfen uns zur Rezeption vor. Ein junger Mann führt uns um das Haus herum und eine Außentreppe hinauf in den ersten Stock. Dort befinden sich offensichtlich die Zimmer für Pilger.
Das Ambiente ist in der Tat schlicht, ein wenig dreckig ist es auch, was vor allem Nora die Nase rümpfen lässt: Hier sei es ja wie in einer Militärkaserne, merkt sie an. Wir entern die Betten. Das Bochumer Studentenpärchen ist auch schon eingetroffen. Ich gönne erst mir und dann meiner Wäsche eine Portion Wasser. Kurz darauf treffe ich – unter großem Hallo – auch Moira und Gabriela wieder. Gemeinsam gehen wir in die Bar, wo Gabriela eine Cerveza grande und ein paar Chips ausgibt.
Wir unterhalten uns nett und lassen uns auch nicht davon stören, dass die Herbergswirte hinter uns die Tische für das Abendessen der Jugendgruppe(n) eindecken. Wir haben alle ebenfalls das Pilger-Abendmenü gebucht, doch bis zum Abend sind es noch ein paar Stunden – und ich habe noch nichts zu Mittag gegessen. Moira hatte eigentlich geplant, nach Noja zu laufen, um dort in einem Supermarkt einzukaufen. Jetzt ist sie aber müde und will eine Siesta machen. Ich dagegen fühle mich fit und erkläre mich bereit, ihr aus Noja etwas mitzubringen. Auch Gabriela gibt eine kleine Bestellung bei mir auf, dann mache ich mich auf den Weg.
Bis zur Stadt sind es laut Führer 1,3 Kilometer – eigentlich ein Klacks, dennoch brauche ich für den Weg fast eine Stunde. Das liegt vor allem an meiner exzessiven Fotosession: es ist nämlich Ebbe, und das Wasser hat noch viele weitere kleine Felsen freigegeben, die über und über mit Algen bedeckt sind. In dem schummerigen Sonnenlicht, das sich durch die Wolken drückt, bekommt die Szenerie etwas Mystisches. Ich experimentiere ein wenig mit der HDR-Funktion des iPhones herum und freue mich über die schönen Fotos, die dabei entstehen.
In Noja schaue ich mich nach einem Supermarkt um. In Strandnähe gibt es nur Bars, in denen der eine oder andere versprengte Gast sitzt und einen Kaffee schlürft. Die Stadt selbst ist wieder mal leer wie nach einer Epidemie. Erneut frage ich mich, wie die Nordspanier auf die Idee kommen können, stundenlang Siesta zu machen, obwohl es gerade mal knapp über 20 Grad sind – von Hitze und unerträglichen Arbeitsbedingungen keine Spur.
In einer Seitenstraße entdecke ich einen Supermarkt. Ich schlendere bestimmt 20 Minuten durch die Regalreihen, bis ich weiß, was ich will, und die Bestellungen von Moira und Gabriela zusammengesucht habe. Dann mache ich mich, bepackt mit zwei Plastiktüten (schon wieder Plastik, grrrrr) auf den Rückweg. Die Tüten sind schwer, das Plastik schneidet mir in die Finger; ein willkommener Anlass, immer wieder stehenzubleiben – und dabei ein paar Fotos zu schießen.
In der Herberge finde ich Moira im Aufenthaltsraum. Sie hat sich in eine Decke gekuschelt und unterhält sich mit einer Pilgerin – es ist die junge Amerikanerin, die mir beim Trekkingstock-Abstieg begegnet war. Neben ihr sitzt ihr Freund. Beide machen ernste Gesichter. Da ich den Beginn der Unterhaltung nicht mitbekommen habe, verstehe ich nicht, wo der Schuh drückt. Moira klärt mich kurz darauf, als die beiden den Raum verlassen haben, auf: Der Freund hatte vor ein paar Jahren eine komplizierte Nacken-Operation. Hier auf dem Jakobsweg sind die Schmerzen zurück, die er überwunden glaubte. Er kann nicht mehr weiterlaufen und muss die Etappen mit dem Bus zurücklegen, was seine Freundin sehr frustriert. Offenbar erwägen sie sogar, den Camino abzubrechen.
Ich liefere die Bestellungen aus und knuspere dann mein verspätetes Mittagmahl. Die übrige Zeit verbringe ich damit, Tagebuch zu schreiben, Fotos und eine Nachricht in die Heimat zu schicken und ein wenig auszuruhen. Dann gehen wir gemeinsam wieder in die Bar – der Beginn des Abendessens rückt näher. Ich sehe weitere bekannte Gesichter: Markus ist da, kurz darauf stoßen auch Ken und Mizuho dazu. Wir verbringen noch einige Zeit im Gespräch an den Bistrotischen, bis das Abendessen beginnt.
Als wir den ersten Gang hinter uns haben (der leidlich genießbar ist), fliegt die Tür auf – und herein kommen drei Pilger. Es sind Rainer, Kyle und eine junge Amerikanerin namens Cindy. Ich falle den beiden Herren um den Hals, so sehr freue ich mich, sie zu sehen. Auch Kyle strahlt, als wir uns begrüßen. Wir empfehlen den Neuankömmlingen, auf keinen Fall das Menü zu bestellen, sondern etwas á la carte zu ordern. Doch zunächst verabschiedet sich das Trio unter die Dusche.
Als wir später zusammensitzen, erfahre ich auch den Grund für die späte Ankunft: Rainer und Kyle sind tatsächlich den Umweg um das Buciero-Massiv gelaufen. Rainer schwärmt von dem „abgefahrenen“ Weg zum Leuchtturm: Die Stufen seien teilweise so schmal gewesen, dass man nur seitwärts hinabsteigen konnte. Ich erkundige mich ein wenig wehmütig, wie rutschig der Weg gewesen ist. „Mit Deinen Barfuß-Schuhen hättest Du sicher ziemliche Probleme gehabt“, berichtet Rainer. Ich bin beruhigt – dann habe ich ja keinen Fehler gemacht.
Als das späte Trio auch fertig mit dem Essen ist, ordern wir einige weitere Flaschen Vino tinto und setzen uns in großer Runde zusammen. Gespräche flirren in mehreren Sprachen über die Tische, doch nach und nach bröckelt die Front – immer mehr Pilger verabschieden sich mit kleinen Augen ins Bett. Am Ende sind nur noch Rainer, Kyle, Cindy, Moira und ich übrig. Ein wenig verschämt fragt der Herbergschef nach unseren „last orders“ – die Bar schließt um 23 Uhr. Wir bestellen noch ein paar Flaschen des wirklich hervorragenden Vino tinto und setzen uns dann raus auf die Terrasse. Wirklich warm ist es dort nicht, aber wir haben so viel Spaß, dass wir gar nicht darauf achten.
Rainer stellt wieder sein Handy in ein Glas, und dann wird weiter erzählt, gelacht und auch getanzt. Ich erfahre, dass Cindy ein wenig fußlahm ist und die beiden Kavaliere ihr einen Teil des Gepäcks abgenommen haben. Mit meinem Englisch stoße ich ein wenig an die Grenze, als Rainer eine Redewendung nach der anderem aus seinem Hirnstübchen hervorkramt – man merkt ihm an, dass er vor einigen Jahren ganze zwölf Monate in den Staaten verbracht hat.
Die Runde ist überaus nett, ich könnte noch Stunden dabeisitzen und mich an diesen interessanten Menschen erfreuen. Angesichts des Weges nach Güemes, der am nächsten Tag auf mich wartet, verabschiede ich mich dann gegen 1 Uhr doch in Richtung Schlafsack. Die anderen haben beschlossen, morgen lange zu schlafen und dann gemeinsam nach Güemes zu laufen – ein verlockender Gedanke.
Als ich in mein Zimmer komme, sind die meisten anderen Bettbesitzer schon fest am Schlafen. Ich bemühe mich, keinen Lärm zu machen, als ich noch die Sachen von meiner Matratze räume. Tolle Idee, alles einfach darauf liegen zu lassen, tadele ich mich selbst. Dann kuschele ich mich in meinen Pennbeutel und blicke noch einmal kurz zurück und nach vorne. Gott hat mich heute reich beschenkt, und morgen werde ich dem charismatischen Priester Ernesto gegenüberstehen. Der Camino bleibt spannend – so spannend wie das Leben.
Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte