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Der Weg beginnt

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Tag 2: Fahrt nach Irun / Von Irun nach Hondarribia (6 Kilometer)

Tam-tam-tam-tam. Tam-tam-tam-tam. Das monotone Trommeln des iPhone-Weckers holt mich aus dem Schlaf. Die Nacht war sehr erholsam. Zeit, noch lange liegen zu bleiben, habe ich nicht. Schließlich ist Sonntag, und ich will in die Messe gehen. Ich denke nochmal an den gestrigen Abend zurück, als ich den Brief meiner Frau geöffnet und gelesen habe. Sogar ein Bild der Familie hat sie mir laminiert und in den Rucksack gesteckt. Dazu hat sie ein kleines Herz aus Holz gelegt, das ich am Reißverschluss meiner Bauchtasche befestigt habe – so denke ich immer an die Familie, wenn ich die Tasche öffnen muss. Eine tolle Idee!!!

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Schon vor Wochen habe ich im Internet nach einer Kirche gesucht, die auf dem Weg vom Hotel zum Busbahnhof liegt und zur passenden Zeit eine Messe offeriert. Mit einem Google-Maps-Ausdruck mache ich mich auf den Weg – diesmal durch den Tunnel. Als ich auf der anderen Seite herauskomme, muss ich lachen: Ich finde den kuriosen Wegweiser wieder, den ich am Tag zuvor fotografiert hatte. Nur ein paar Meter weiter, dann durch den Tunnel, und ich wäre ruckzuck am Hotel gewesen, ohne über den Berg steigen zu müssen. Kurz darauf stelle ich fest, dass ich am Abend auch schon vor der Kirche stand, in der die Messe stattfindet, ohne zu wissen, dass es ebenjene Kirche ist. Ich betrete das Gotteshaus und wundere mich, dass es so leer ist. Nur noch fünf Minuten bis zum Beginn der Messe, und noch kein einziger Besucher da? Da stimmt doch was nicht?

Als sich die Tür öffnet und einige Spanier hineinkommen, bin ich etwas beruhigt. Aber sie bleiben nicht in der Kirche, sondern verschwinden gleich wieder durch eine Seitentür. Ich schnappe meinen Rucksack und gehe hinterher – um dann festzustellen, dass die Messe wohl nicht in der schönen Kirche stattfindet, sondern in einer angrenzenden Kapelle. Mehr als 30 Personen drängeln sich auf wenigen Stühlen und Bänken – und nebendran ist die Kirche ungenutzt. Wie schade…

Nicht alle Messbesucher sind bei der Sache: direkt vor mir piepst es plötzlich, ein älterer Spanier greift in die Hosentasche – und holt sein Smartphone heraus. In aller Seelenruhe checkt er seine Mails – und lässt sich auch nicht davon abhalten, als ihm seine Frau den Ellenbogen in die Rippen stößt und ihn böse anfunkelt. Beim Friedensgruß bricht ein unbeschreibliches Chaos aus: jeder fällt jedem um den Hals, es wird geknutscht und geherzt, was das Zeug hält.

Als ich aus der Kapelle ins Freie trete, empfängt mich ein strahlend blauer Himmel, von dem die Sonne herrlich warm scheint. Gut gelaunt mache ich mich auf in Richtung Busbahnhof. Ich habe noch ein wenig Zeit, bis der Bus nach Irun fährt, deshalb halte ich Ausschau nach einem Ort zum Frühstücken. Ich komme an einer Bäckerei vorbei, die lecker aussehende Magdalenas im Schaufenster hat. Aber mir steht der Sinn nach etwas Herzhaftem. Ich komme an zahlreichen Bars vorbei, will aber noch näher an den Busbahnhof kommen, um hinterher nicht in Zeitdruck zu geraten. Keine gute Idee, stelle ich kurz darauf fest, denn in der Nähe des Busbahnhofs sind die Cafés und Bars rar, stattdessen gibt es jede Menge Geschäfte.

Ich lasse mich schließlich in einem Café in der Nähe des Rathauses nieder und bestelle ein Bocadillo Anchovi und einen Kaffee. Eine schräge Kombination, wie ich kurz darauf feststelle, denn die ziemlich salzigen Sardellen auf dem sonst trockenen Baguette passen so gar nicht zu dem Kaffee, unter dem eine undefinierbare trübweiße Flüssigkeit wabert. Ist das Milch? Oder vielleicht Eierlikör? Wahrscheinlich habe ich doch beim Bestellen etwas verwechselt.

Der weitere Weg zum Busbahnhof führt mich erneut durch den kleinen Tunnel, den ich gestern schon durchschritten habe. Heute allerdings fahren dort keine Autos, sondern die Straße ist gesperrt – im Tunnel findet ein Flohmarkt statt. Dutzende Händler verkaufen an Tischen scheinbar alles, was sie zuhause so gefunden haben und nicht mehr brauchen. Einige Verkäufer haben ihre Ware einfach auf den Teer der Straße gelegt – und die Interessenten wühlen darin herum. An den Tischen findet sich nicht nur das übliche Flohmarkt-Allerlei aus Handyhüllen, Büchern und Nippes. Auch Gartenwerkzeug wird angeboten, sogar ganze Möbelstücke. Es herrscht ein unbeschreibliches Gedrängel – und ein ebensolcher Lärm. Spanien ist ein lautes Land.

Am Busbahnhof angekommen, stelle ich fest, dass ich mich in Sachen Frühstück falsch entschieden habe: Rund um den Platz finden sich zahlreiche gemütliche Bars, die für 3 Euro ein schönes Frühstück mit Kaffee, Saft und Toast offerieren. Zu spät. Ich springe noch in eine Bäckerei, weil mich der Gedanke an die Magdalenas von vorhin nicht loslässt. Drinnen gibt es die Kuchen in mindestens drei Größen. Ich entscheide mich für die zwölf kleinen Magdalenas, auch wenn das wohl ziemlich viel Verpackungsmüll bedeutet – aber es ist einfach praktischer auf Reisen. Es verschlägt mir dann allerdings die Sprache ob der weiteren Verpackungsorgie: Ehe ich protestieren kann, hat die Dame hinter dem Tresen die bereits in Plastik eingewickelten Magdalenas noch einmal in Papier eingeschlagen, verschnürt und in einer weiteren Plastiktüte verstaut.

Mit einem schlechten Gewissen (es schwimmt schließlich schon genug Plastik in den Weltmeeren) betrete ich die „Estacion de Buses“. Den Fahrschein habe ich schon in Deutschland per Internet geordert, die Automaten kann ich also getrost links liegen lassen. Die Busse fahren unterirdisch ab, eine Rolltreppe führt nach unten. Obendrüber hängt eine riesige Anzeigetafel. Ich entdecke meinen Bus, der mich während der nächsten gut vier Stunden von Santander nach Irun bringen soll, und nehme auf einer Bank Platz. Kurz darauf treffe ich die beiden Damen aus dem Flugzeug wieder. Sie haben den gleichen Bus wie ich ausgesucht, um nach Castro zu kommen. Wir plaudern kurz, zudem nutze ich das freie Wlan, um noch eine Nachricht und ein paar Bilder an die Familie und die Freunde abzusetzen.

Mit etwas Verspätung rollt schließlich der Alsa-Bus an die Haltestelle. Eine ganze Menge Fahrgäste wartet auf das Einsteigen; alle verstauen ihre Taschen und Rucksäcke im Gepäckraum. Mit meiner Wasserflasche und dem Paket mit den Magdalenas setze ich mich auf meinen Sitzplatz. Auch im Bus gibt es freies Wlan, ich muss allerdings aufpassen, dass der Akku nicht leergesaugt wird, schließlich will ich nach der Ankunft in Irun noch bis Hondarribia laufen und in der Altstadt ein paar Fotos machen.

Der Bus macht sich auf den Weg aus der Stadt heraus in Richtung Autobahn. Schnell steigt der Lautstärkepegel an – zahlreiche Fahrgäste nutzen die Zeit, um zu telefonieren. Eine Frau hinter mir hat dazu den Lautsprecher ihres Handy eingeschaltet – das Gespräch ist sicher bis in die letzte Reihe zu verstehen. Andere Fahrgäste unterhalten sich ebenso lautstark. Ich schaue aus dem Fenster und freue mich, ab und zu das Meer zu sehen. Die Landschaft ist beeindruckend: Strände, Berge, Kühe – als hätte man die Alpen, das Allgäu und Süditalien in einen Topf geworfen.

Immer wieder fährt der Bus von der Autobahn ab, um in einer Stadt das Fahrgast-Karussell anzuwerfen. In Castro steigen die beiden Pilgerinnen aus, die ich im Flugzeug getroffen habe – wir winken uns zu. Wir erreichen Bilbao, dann San Sebastian. Neben der Autobahn entdecke ich einen markanten Berg, der mich fasziniert. Mit meinem Acht-Wochen-Spanisch frage ich die junge Frau neben mir, wie der Berg heißt. Sie wird rot und lächelt mich unsicher an: Warum ich wissen wolle, wie sie heißt, fragt sie zurück. Super, da habe ich mich wohl etwas falsch ausgedrückt…

Nach vier Stunden und 15 Minuten sind wir am Ziel: Der Bus hält vor dem Bahnhof in Irun. Die Sonne scheint, das grüne LED-Thermometer an einer Apotheke zeigt 24 Grad. Ich steige aus, hole meinen Rucksack und betrete das Bahnhofsgebäude, um die Schuhe zu wechseln. Seit der Abreise trage ich meine Flip-Flops, nun hole ich die Five-Fingers hervor, mit denen ich einen Großteil meiner Pilgerreise laufen will.

Wo geht es denn nun auf den Jakobsweg? Am Bahnhof gibt es keine Pfeile, der Führer ist hier auch nur bedingt eine Hilfe, weil er den Weg von Hendaye nach Irun beschreibt. Schließlich finde ich mich aber doch zurecht und mache mich auf den Weg in Richtung Hondarribia, das früher einmal Fuenterrabia hieß. Ich erreiche die im Führer beschriebene Bushaltestelle – gleich muss ich aufpassen, nicht den Abzweig zu verpassen, der mich in Richtung Altstadt bringen soll. Der Weg zieht sich, der Ruck- sack auf dem Rücken ist ungewohnt, aber ich freue mich, an der frischen Luft zu sein und schönes Wetter zu haben.

Bald kommt links der Jaizkibel in Sicht. Respektvoll schaue ich auf den Berggrat, den ich morgen entlangpilgern will. Mannomann, ist das ein Hügelchen. Und das gleich am ersten „richtigen“ Pilgertag…

Ich erreiche den Kreisel an der Kapelle „Santa Maria de Gracia“ und gehe nach rechts in Richtung Altstadt. „Alde Zaharra/Casco Viejo“ steht auf Baskisch und Spanisch auf dem Hinweisschild. Kurz darauf geht es links durch ein Tor hinein in die Stadt, die als eine der schönsten in ganz Spanien gilt. Durch eine Gasse, gesäumt von mittelalterlichen Häusern, erreiche ich die gotische Kirche – die natürlich geschlossen ist. Klar, es ist ja auch Siesta. Ich schieße ein paar Fotos und stehe kurz darauf vor dem Palast von Karl V. – ein trutziger Bau mit wenigen Fenstern. Heute befindet sich darin ein Fünf-Sterne-Hotel. Wie das wohl geht, so ohne Tageslicht, denke ich.

Es ist Zeit für die erste Cerveza. Ich zücke den Beutel mit den Münzen, die mir Freunde als Reisegeschenk mitgegeben haben, und mache es mir auf der Arma Plaza an einem der Tische in der Sonne bequem. Die nackten Füße auf den Rucksack gelegt, die Nase in die Sonne gestreckt – mir geht es gut!

Der Führer empfiehlt noch einen kurzen Gang durch die Stadt, ich mache also einen Schlenker, staune über die eine oder andere schöne Ecke, mache mich aber dann auf den Rückweg zur Santiago-Kapelle, schließlich will ich heute noch meine erste Pilgerherberge erreichen.

Bis zur Aterpexta „Capitán Tximista“ sind es noch einige Kilometer – bergauf, wie ich bald feststelle. Vorbei an einigen Streusiedlungen erreiche ich die schöne Santiago-Kapelle mit einem Brunnen und bald darauf dann den Abzweig zur Herberge. Es handelt sich um eine ehemalige Mühle aus dem 16. Jahrhundert, die malerisch in einem Tal liegt. Der Bach neben dem Anwesen rauscht, auf dem Spielplatz tummelt sich eine Ju-gendgruppe, auf der Terrasse haben es sich schon einige Pilger gemütlich gemacht.

Am Tresen zücke ich mein Credential, den Pilgerausweis, und bekomme meinen ersten Stempel. Die jungen Leute, die die Herberge betreiben, sind total nett. Sie zeigen mir alle Räume und versuchen mit einem Augenzwinkern, meinem rudimentären Spanisch auf die Sprünge zu helfen. Zum ersten Mal darf ich dann in einer Schlafsaal ein Bett belegen, indem ich meinen Schlafsack darauf ausbreite. Allzu viele Betten sind noch nicht reserviert, es scheint also heute nicht ganz so viel los zu sein. Ich springe unter die Dusche und wasche danach zum ersten Mal meine Wäsche. Draußen finde ich zunächst nicht den Platz zum Aufhängen und lasse Hemd und Hose in meiner Not über einem Zaun baumeln. Doch dann entdecke ich in einer Ecke die Wäscheleine.

Direkt vor der Tür liegt ein riesiger Hund. Zunächst vermute ich, dass er zur Herberge gehört, doch kurz darauf kommt ein älterer, sehr sympathischer Franzose heraus und schaut nach dem Tier. Ich staune, wie gut der Hund auf ihn hört. Das ist aber wohl auch nötig, wenn er mit auf dem Camino unterwegs sein will.

Bald darauf sitze ich auf der Terrasse, auf der das Abendmenü serviert wird. Neben mir lässt sich Scott aus Newcastle gerade seinen Salatteller schmecken. „Aus dem eigenen Garten“, strahlt der junge Herbergswirt, der mir meine Portion Grünzeug bringt. Dazu gibt es natürlich Vino tinto. Ich komme mit Scott ins Gespräch. Er ist im Gegensatz zu mir schon mächtig pilgererfahren, war bereits auf dem Camino Frances und sogar auf diversen Trekkingtouren in China. Den Camino del Norte will er in 26 Tagen laufen. Mir bleibt die Spucke weg – das würde ich nie schaffen. Muss ich aber auch nicht.

Ein paar Minuten genieße ich noch die Abendluft, dann wird es doch ein wenig frisch. Also ab ins Bett, schließlich will ich morgen über den Jaitzkibel. Im Schlafsaal treffe ich Verena aus dem Schwabenland: Sie war letztes Jahr ebenfalls auf dem Camino Frances unterwegs, hat sich jetzt den Camino del Norte vorgenommen. Allerdings ohne zu hetzen – sie hat Zeit und will ab und zu einen Ausruhtag einlegen. Morgen werde ich sie wohl in der Herberge wiedersehen – sie will auch nur bis Pasaia laufen.

Als ich mich auf der Matratze ausbreite, bekomme ich einen Schreck: Das Bett quietscht wie ein Ferkel auf dem Weg zur Schlachtbank. Und das, wo ich mir doch fest vorgenommen hatte, die anderen Pilger nicht zu stören – von wegen Tütenrascheln und so. Aber keine Chance: jede auch noch so kleine Bewegung wird von heftigen Quietschgeräuschen begleitet. Da muss ich jetzt durch – und die anderen Pilger müssen es auch. In der Nacht allerdings stelle ich fest, dass ich nicht der einzige bin, der die Nachtruhe zerfetzt. Direkt neben mir liegt ein Pilger, dessen Atemgeräusche irgendwo zwischen Waldarbeiter und Schlafapnoe anzusiedeln sind. Dennoch lasse ich meine Ohropax im Rucksack – ich bin viel zu müde, um mich davon vom Schlafen abhalten zu lassen.

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

 

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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