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Eine weitere Lektion

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Tag 6: Von Orio nach Zumaia (18 Kilometer)

„Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor: Du gehst in die falsche Richtung!“ Vor mir steht Gregor und lacht mich an. Mit der falschen Richtung hat er sogar recht, aber ein Missverständnis liegt nicht vor. Ich gehe mal wieder zurück. Diesmal allerdings freiwillig, und verlaufen habe ich mich auch nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

„Wow, was für ein toller Weg. Warum führt der Jakobsweg nicht da lang?“, habe ich einige Minuten zuvor gedacht, als ich zum ersten Mal einen Blick auf Zarautz werfen konnte und die Strandpromenade entdeckt habe. Ein Holzsteg führt endlos weit am Strand entlang, nur wenige Meter vom Wasser entfernt. Ich zücke meinen Outdoor-Führer und stelle fest, dass genau diese Promenade als „erheblich schönere“ Wegalternative empfohlen wird. Am Campingplatz muss ich den Abzweig verpasst haben. Ich mache mich also auf den „Rückweg“, wieder den Berg hinauf. Gregor schaut mir mit einer Mischung aus Erstaunen und Unverständnis nach…

Rückblende: Um 7.30 Uhr hat uns Rosa aus dem Bett geworfen. Das Wetter ist immer noch nicht berauschend, es ist bewölkt, Nebelschwaden wabern durchs Tal. Auf das Frühstück verzichte ich, stattdessen packe ich in Ruhe meine Sachen und mache mich auf die Socken (die ich gar nicht anhabe). Wieder gehe ich den Berg hinab, bewundere noch einmal die historischen Gebäude im alten Ortskern und schlage den Weg zum Hafen ein. Die Pfeile schicken mich links an den Booten vorbei, unter der Autobahn hindurch in Richtung Meer. Bald geht es links den Berg hinauf – und nach ein, zwei Kilometern erreiche ich den Campingplatz, der auf einem Hügel vor Zarautz thront.

Vor diesem Campingplatz stehe ich nun wieder und frage mich, welcher der Wege der richtige ist. Da der offizielle Weg ja über die Landstraße nach Zarautz führt, sind hier natürlich keine Pfeile zu sehen. Ich schlage auf gut Glück einen Weg ein – und stelle kurz darauf fest, dass ich richtig bin: an einer Pistenkreuzung entdecke ich die Wegauszeichnung des Fernwanderweges GR 121 mit seinen rot-weißen Streifen.

Kurz darauf kommt wieder das Meer in Sicht. Mittlerweile hat die Sonne die Wolken verscheucht und scheint, was das Zeug hält. Das kommt mir auch fototechnisch wie gerufen, denn von hier aus bieten sich wieder atemberaubende Ausblicke, die sich auf einem Foto mit Sonne einfach besser machen. Auf einer kleinen Insel erhebt sich ein seltsames Bauwerk. Schautafeln erläutern, dass hier einmal eine Schiffsverladestation war – das Erz, das in den Minen abgebaut wurde, wurde hier mit einem ausgeklügelten Seilsystem aufs Meer hinaus und dann auf die Frachter befördert.

Ich gehe weiter und erreiche bald darauf eine Treppe, die hinunter zum Strand führt. Vor mir liegt Zarautz, und auch die endlos lange Strandpromenade ist gut zu sehen. Einige hundert Meter weiter und zahlreiche Fotos später bin ich am Strand angekommen und betrete den Holzsteg. Hinter der Promenade ist ein Golfplatz angelegt, weshalb der Holzsteg mit einem Netz vor umherfliegenden Bällen geschützt ist. Der Blick aufs Meer ist dagegen frei, und ich kann mich kaum sattsehen. Ich beschließe, mir ein schönes Plätzchen für ein Picknick zu suchen.

Einige Zeit laufe ich hinter einer Gruppe junger Spanier her, die sich auf einer Wanderung befinden. Mein Blick fällt auf das T-Shirt eines der Männer. Es dauert ein wenig, bis ich den spanischen Spruch kapiert habe, dann tippe ich dem Mann auf die Schulter. Für die Frage, ob ich ein Foto von seinem T-Shirt machen darf, reicht mein Acht-Wochen-Spanisch nicht aus. Also zücke ich das iPhone, zeige auf sein T-Shirt und schaue ihn fragend an. Der Spanier nickt und will nach dem Handy greifen, um ein Foto von mir zu machen. Ich versuche das Missverständnis aufzuklären und bekomme schließlich mein Foto von dem Spruch. Auf dem T-Shirt steht: „Ich brauche kein Google – meine Frau weiß alles.“

Ungefähr in der Mitte des bestimmt zwei Kilometer langen Steges führt eine Holztreppe in Richtung Strand. Allerdings nur in Richtung, nicht zum Strand, denn kurioserweise endet die Treppe ungefähr anderthalb Meter über dem Sand. Ein toller Ort, um die Füße und die Seele baumeln zu lassen. Ich hole meine Brotzeit heraus, genieße das Essen und den Blick aufs Meer. Obwohl gar kein starker Wellengang herrscht, ist das Meer ganz schön laut – ich liebe dieses Geräusch, wenn Welle auf Welle sanft am Strand ausläuft.

Als das Brot gegessen ist, beschließe ich, den restlichen Weg bis Zarautz nicht auf der Promenade, sondern direkt am Strand entlangzulaufen. Ich setze meinen Rucksack auf – und stelle sofort fest, dass das keine gute Idee war: mit den zusätzlichen acht Kilo auf dem Rücken ist es sicher zu gefährlich, von der im Nirwana endenden Treppe auf den Sand zu springen. Also darf der Rucksack samt Schuhen zuerst an den Strand, und ich hüpfe ihm hinterher. Es ist herrlich, mit nackten Füßen durch den Sand zu stapfen.

Wieder verzichte ich darauf, durch die Wellen zu laufen, zu groß ist die Gefahr, nachher in den Schuhen Blasen zu bekommen, wenn die Haut so aufgeweicht ist. Ich erreiche Zarautz und gehe weiter am Strand entlang, bis dieser an der Nationalstraße nach Getaria endet. Hier habe ich wieder mal zwei Wegalternativen: Der Jakobsweg mit seinem historischen Steinpflaster verläuft abseits vom Meer über einen Hügel, der neu ausgezeichnete Weg führt an der Küstenstraße entlang. Auch wenn immer wieder Autos vorbeirauschen, entscheide ich mich, am Meer entlangzulaufen, das nach den ersten trüben Tagen nun endlich strahlend blau in mein Herz lacht.

In langgestreckten Kurven geht es die Küste entlang. Der Fußgängerweg ist breit genug, um sich nicht vom Verkehr belästigt zu fühlen. Ab und zu gibt es sogar einen Aussichtspunkt. Gefühlt alle fünf Meter bleibe ich stehen, um ein Foto zu schießen. Schließlich kommt Getaria mit seiner vorgelagerten grünen Halbinsel in Sicht. Ich lege einen Schritt zu, denn ich will mir unbedingt noch die „ungewöhnlich große gotische Kirche“ ansehen, von der im Führer die Rede ist. Es geht auf Mittag zu, gleich fällt ganz Nordspanien wieder in den Siesta-Schlaf…

In Getaria angekommen, stehe ich vor einem monumentalen Bauwerk. Ganze Heerscharen von Schülern klettern darin herum, Zettel und Stift in der Hand – offenbar machen sie eine Art Schnitzeljagd. Bei dem Bauwerk handelt es sich um ein Denkmal für Juan Sebastián Elkano, der 1522 als Kapitän die von Magellan begonnene Weltumseglung abschloss. Sein Name befindet sich auch auf einer Gedenktafel an einer Wand. Getaria muss ganz schön stolz sein auf den berühmtesten Sohn der Stadt, denke ich angesichts der Größe des Monuments.

Vorbei an einer Steinfigur, die ebenfalls Elkano darstellt, betrete ich die leicht abschüssige Hauptstraße, die – an Andenkenläden und Bars vorbei – direkt auf den Eingang der Kirche zuführt. Es ist genau 12 Uhr; für die ersten Spanier offenbar genügend Anlass, vor den Bars mit einem Gläschen Vino tinto auf die nahende Siesta anzustoßen. Die Tür der Kirche ist noch offen, es hat sich also gelohnt, sich ein wenig zu beeilen.
Das Innere des Gotteshauses, das aus dem 12. Jahrhundert stammt, hält eine Überraschung bereit: Der Holzboden ist nicht eben. Um zum Altar zu gelangen, muss man quasi bergauf gehen. Ich fühle mich ein wenig wie auf einem Segelschiff…

Draußen besuche ich noch einen Lebensmittelladen – in Spanien „Alimentation“ genannt – um die Vorräte aufzufüllen, und mache mich dann auf den Weg nach Zumaia. Dazu könnte ich einfach auf der Nationalstraße bleiben und weiter an der Küste entlanglaufen, aber ich beschließe, nun dem offiziellen Jakobsweg zu folgen. Es geht zunächst kräftig bergauf, wieder auf historischem Steinpflaster. Wie viele Pilger hier wohl schon drübergelaufen sind, frage ich mich?!

Auch wenn das Meer nicht mehr zu sehen ist – die Landschaft ist wirklich wunderschön. Bald durchquere ich das Dörfchen Askizu. Schließlich kommt Zumaia mit seiner charakteristischen Flussmündung in Sicht. Es geht nun ziemlich steil bergab auf die Nationalstraße. Ich bin angesichts der ungewohnten Hitze – die Temperaturen sind noch einmal angestiegen – ein wenig müde und freue mich auf die Ankunft in der Herberge. Ich passiere einen Park, in dem sich laut Führer ein Museum mit Werken des berühmtesten baskischen Malers befindet.

Auf der Nationalstraße rauschen bekannte Gesichter an mir vorbei: Der Ire und seine Tochter radeln auf Zumaia zu. So k.o. wie ich bin, würde ich jetzt auch lieber ein Fahrrad haben, um schneller am Ziel zu sein. Doch ich muss noch ein paar Kilometer weiter. Ich komme an einer Schiffswerft vorbei. Offenbar ist gleich Schichtwechsel, denn immer wieder kommen mir Männer in blauen Latzhosen und Gummistiefeln entgegen. Einer von ihnen schaut auf seine Armbanduhr und beschleunigt seinen Schritt. Als es vom nun nicht mehr so fernen Kirchturm 13 Uhr schlägt, nimmt er die Beine in die Hand, um nicht zu spät zu kommen.

Schweißgebadet erreiche ich die Innenstadt von Zumaia – ein ganz hübsches Städtchen, das sich in eine Senke zwischen zwei Hügel schmiegt. Ich halte mich links und suche – kaum angekommen – den Weg aus der Stadt heraus. Ich will heute in der Pension Santa Klara übernachten. Die Sommerherberge hat laut Führer noch geschlossen, und die Pension – einen Kilometer außerhalb der Stadt gelegen – bietet „eine gigantische Aussicht auf das Meer“. So verspricht es der Führer, und das will ich mir nicht entgehen lassen.

An einer schönen alten Steinmauer bleibe ich kurz stehen, um aus der gerade gefüllten Wasserflasche einen tiefen Schluck zu nehmen. Dann schlage ich noch einmal den Führer auf, um nach dem weiteren Weg zu schauen. Mein Blick fällt auf die Beschreibung der Sommerherberge: Sie liegt in einem schönen Kloster mit Namen San José. Angesichts meiner Müdigkeit wäre ich vielleicht doch sogar dort abgestiegen, wenn die Herberge nicht geschlossen wäre. Wo ist denn eigentlich dieses Kloster? „Der kleine und niedrige Eingang kann leicht übersehen werden“, heißt es im Führer, „er liegt gegenüber der Hausnummer 10 auf der linken Seite in der alten Steinmauer“.

Steinmauer? Ich schaue hoch, mein Blick fällt auf die Hausnummer 10 direkt vor meiner Nase. Gegenüber, in der alten Steinmauer, sehe ich den Eingang zur Sommerherberge. Die Tür steht offen. Es ist laut, denn vor und hinter der Tür sind Bauarbeiter zugange. Klar, denke ich, die renovieren jetzt ein bisschen, bevor die Herberge im Juli öffnet. Ich gehe weiter den Berg hinauf, mache kurz an einer Kapelle am Wegesrand halt und stapfe dann in mittlerweile sengender Hitze weiter.

Irgendwann erreiche ich ein alleinstehendes Anwesen. Ob das die Pension ist? Tatsächlich: ein Schild mit der Aufschrift „Santa Klara“ weist mich nach rechts. Kurz darauf stehe ich durchgeschwitzt und abgekämpft vor der Tür und klingele. Der obere Teil der Tür wird geöffnet, während der untere Teil zu bleibt. Wie im Pferdestall, denke ich. Ob wohl noch ein Zimmer frei ist? Ich habe keine Lust, den ganzen Weg in die Stadt zu- rückzulaufen. Die junge Frau im Türrahmen schaut mich nicht gerade erfreut an und fragt: „Ein Zimmer?“ Ich nicke. Sie blättert mit gerunzelter Stirn in einem Buch herum.

Schließlich bedeutet sie mir mitzukommen. Erleichtert folge ich ihr links ums Haupthaus herum zu einer Außentreppe. Im ersten Stock ist es angenehm kühl, wie ich feststelle. Wir gehen einen langen schmalen Gang entlang. Ganz hinten rechts öffnet die junge Frau eine Schiebetür und lässt mich eintreten. Das Zimmer ist klein, hat eine Dachschräge und nur wenige kleine Fenster. Egal, es ist sauber, ich habe eine Dusche und kann nachher den „gigantischen Ausblick auf das Meer“ genießen.

Ich zahle 20 Euro, bekomme den obligatorischen Stempel in mein Credential und erhalte dann ein paar Instruktionen. Abendessen gebe es in der Pension nicht, sie könne mich aber heute Abend mit dem Auto in die Stadt fahren und später wieder mit hochnehmen. Ich bedanke mich und frage, ob denn noch weitere Pilger in der Pension sind. Ein wenig vermisse ich schon die Gesellschaft der Anderen, die ich in den vergangenen Tagen kennengelernt habe. Nein, antwortet die junge Frau, und es würden sicher auch keine mehr kommen, denn das Haus sei voll – „und schließlich hat ja auch die Sommerherberge in der Stadt geöffnet.“ Wie bitte? Ach deshalb stand in der Steinmauer die Tür offen, denke ich und bedauere, nicht einfach mal nachgeschaut zu haben. Also muss ich jetzt den restlichen Tag ohne Pilgergemeinschaft, aber mit „gigantischer Aussicht“ zubringen. Die nächste Lektion in Sachen „Ich nehme alles, wie es kommt.“

Nach dem Duschen bringe ich meine Wäsche zur Rezeption – auch hier wird alles kostenlos gewaschen, wie ich erfreut feststelle. Ich erstehe ein Bier und setze mich vor das Haus in den Schatten. Um in einem der zahlreichen, einladend aussehenden Liegestühle auf der Wiese auszuruhen, ist es viel zu heiß – mittlerweile dürfte das Thermometer 35 Grad zeigen, schätze ich. Die Aussicht von hier oben ist wirklich unfassbar schön und hilft mir ein wenig über meine leise Enttäuschung angesichts der Abwesenheit meiner Pilger-Genossen hinweg. Nach links kann man kilometerweit die Küste entlangschauen, auf der rechten Seite liegt zu den Füßen des Hügels die Stadt Zumaia.

Ich entdecke von oben einen weiteren Sandstrand, der bei meinem Gang durch die Stadt nicht zu sehen war. Heute wäre es wirklich warm genug zum Baden, aber der Strand ist zu Fuß zu weit entfernt – und ob die Herbergswirte mich zweimal nach unten fahren, traue ich mich nicht zu fragen. Also lese ich ein wenig in meinem Führer, schreibe in mein Tagebuch und mache mich dann auf die Suche nach Wlan, um der Familie ein paar Fotos und eine Nachricht zu schicken.

Im Erdgeschoss des Nebengebäudes befindet sich ein Aufenthaltsraum mit Küche. Dort treffe ich auf ein paar junge Leute, die hier Urlaub machen und in der Pension abgestiegen sind. Ich bekomme eine Cerveza und ein paar Chips ausgegeben. Dann steigen sie in ihre Autos und fahren davon – vermutlich zum Strand. Kurz überlege ich zu fragen, ob ich mitfahren kann, aber es ist schon zu spät – ich bin wieder allein.

Immer wieder schaue ich den Berg hinunter, ob nicht doch noch ein vertrautes Gesicht mit Rucksack und Muschel erscheint. Doch Fehlanzeige. Stattdessen fahren immer wieder Autos vor mit Leuten, die nach einem freien Zimmer fragen – und abgewiesen werden. Ich scheine tatsächlich das letzte Bett bekommen zu haben. Kurz überlege ich, einem jungen Pärchen anzubieten, ihnen mein Zimmer (das ein Doppelbett hat) zu überlassen und stattdessen in der Sommerherberge abzusteigen.

Was ist nur los mit mir? Sonst bin ich überhaupt kein Langeweile-Typ, freue mich im Gegenteil über jede freie Minute, die ich gemütlich verbringen kann (um das Wort chillen zu vermeiden). Die anderen Pilger scheinen mir mehr ans Herz gewachsen zu sein, als ich bis jetzt registriert habe…

Wenig später kommt die junge Frau zu mir und fragt, ob ich mit in die Stadt fahren will. Ich schaue auf die Uhr. Schon 19.10 Uhr. Der Nachmittag ist doch verflogen, stelle ich fest. Ich frage, wann denn in der Stadt die Messe stattfindet – und erfahre, dass sie um 19.30 Uhr beginnt. Kurz darauf sitzen wir im Auto. Ich frage die junge Frau, ob die Temperaturen normal sind für die Gegend und die Jahreszeit. Sind sie nicht, antwortet sie, die plötzliche Hitze sei ziemlich außergewöhnlich.

In der Stadt lässt mich die junge Frau an einer Ecke raus, zeigt mir den Weg zur Kirche und wo sie mich heute Abend wieder einsammeln will. Ob 21.30 Uhr okay sei, fragt sie. Ich nicke.

Zur Kirche sind es nur wenige Schritte. Im Inneren ist es angenehm kühl. Als ich in Santander und Pasaia die Messe besuchte, habe ich mich in Outdoorhosen und Flip-Flops noch ein wenig underdressed gefühlt – mittlerweile macht es mir nichts mehr aus, dass mich die Spanier verwundert anschauen.

Kurz bevor die Messe beginnt, geht die Tür auf – und herein kommen der Ire mit seiner Tochter sowie Kyle, der Florida-Texaner. Mein Herz hüpft vor Freude. Schlagartig wird mir klar, warum mir so unversehens der Gedanke kam, in die Messe zu gehen – ich sollte dort „meine“ Pilger wiedertreffen.

Als die Messe zu Ende ist, begrüßen wir uns vor der Tür – und beschließen, gemeinsam essen zu gehen. Wohin es geht, ist mir herzlich egal – ich bin so glücklich über die unverhoffte Gesellschaft. Wir gehen ein paar Straßen weiter und stehen plötzlich mitten im typisch spanischen Trubel, den ich auch in San Sebastian schon kennengelernt hatte. Auf dem Bürgersteig findet ein kleines Musikfestival statt – eine Band spielt unter freiem Himmel, aus den Boxen dröhnt Rockmusik. Vor den Bars, die sich alle in einer Ecke des Viertels knubbeln, stehen Spanier, unterhalten sich lautstark. Dazwischen tollen Kinder herum und spielen Fußball.

In den Bars: das gleiche Gedrängel. Wir ergattern einen freien Tisch und warten wieder vergeblich auf eine Bedienung. Kyle kämpft sich zum Tresen vor und organisiert eine Speisekarte. Der Wirt ruft uns mehrfach etwas zu, was aber im Lärm untergeht – schließlich läuft passend zur Szenerie im TV an der Wand auch noch ein Uralt-Western. Wir filtern aus den Wortfetzen heraus, dass es heute wohl eine Art Sonderangebot gibt: Ein kleines Getränk und ein Pintxo für 1,50 Euro. Eine ganze Menge Gäste hat schon davon Gebrauch gemacht, wie man an den zahllosen Servietten sieht, die auf dem Boden verstreut liegen. Mülleimer gibt es nicht, der Abfall wird einfach fallen gelassen – und hinterher dann zusammengekehrt.

Wir ordern zunächst das Sonderangebot und bestellen danach noch etwas zu essen und zu trinken. Die Tochter des Iren hängt ein wenig in den Seilen – sie ist müde nach der einwöchigen Pilgerfahrt auf zwei Rädern. Eigentlich wollte sie mit ihrem Daddy den Camino zu Fuß gehen, „aber das hätte sie nicht geschafft“, meint der Ire. So haben sie beschlossen zu radeln. Ich frage den Iren, ob er die Fahrräder aus der Heimat mitgebracht hat. Er schüttelt den Kopf; sie sind in der französischen Grenzstadt Hendaye in einen Carrefour gegangen und haben zwei Drahtesel gekauft – für 89 Euro das Stück. Jetzt, am Ende der Tour, haben sie die Räder der Herberge geschenkt. Morgen geht es mit dem Bus nach Bilbao und dann mit dem Flieger zurück in die Heimat.

Kyle, der Texaner, erzählt mir, dass er zunächst ein technisches Studium in Florida absolviert hat. Nun will er aber Priester werden; vor dem Eintritt ins Seminar hat er sich noch vorgenommen, den Camino del Norte zu laufen. Ich mag Kyle sehr, seine offene Art, sein Lachen. Ich kann ihn mir sehr gut als Priester vorstellen. Auch die beiden Iren scheinen gläubig zu sein, immer wieder ist von einem Pater die Rede, der daheim die Messe liest.

Als wir die Bar verlassen, wird es langsam dunkel – was die Kinder nicht davon abhält, weiter auf der Straße zu kicken. Auch der Besuch der Bars hat kaum abgenommen, dafür ist offenbar das Straßenkonzert zuende – die Boxen werden gerade abgebaut. Plötzlich stehen Sibylle und Elke vor mir – sie waren ebenfalls etwas essen und gehen jetzt zur Herberge zurück. Auch Gregor sei dort abgestiegen, höre ich. Ich schaue auf die Uhr: Ich würde total gerne noch einen Abstecher zur Sommerherberge machen und ein wenig plaudern, aber ich werde gleich wieder von der jungen Frau abgeholt – vermutlich hat sie die vergangenen Stunden auch irgendwo in dem Trubel hier verbracht.

„Frag sie doch, ob Du noch ein wenig länger bleiben kannst“, ermuntert mich Kyle. Ich überlege: in Deutschland würde ich mich kaum trauen, eine solche Frage zu stellen – ausgemacht ist schließlich ausgemacht. Aber ich bin in Spanien, hier sind doch alle lockerer drauf – wie mir mein Erlebnis in der Pension Anne in San Sebastian vor Augen geführt hat. Es käme also auf einen Versuch an. Ich verabschiede mich von den anderen Pilgern und gehe zum vereinbarten Treffpunkt. Dort warte ich keine fünf Minuten, da taucht auch schon mein Chauffeur auf. Ich frage verschämt, ob ich noch ein Stündchen länger in der Stadt bleiben könnte. Zu meiner großen Überraschung sagt sie sofort Ja, nennt mir die neue Uhrzeit und braust davon.

Es gibt ein großes Hallo, als ich durch den „kleinen und niedrigen Eingang in der alten Steinmauer“ trete: Auf Plastikstühlen im Garten sitzen Gregor, Kyle, die Iren, Sibylle und noch ein, zwei neue Gesichter. Auch die Hospitalera, die ehrenamtliche Herbergswirtin, hat sich dazugesetzt. Sie bekommt erstmal verklickert, wer der Neuankömmling ist und was er hier will. Ich nutze die Gelegenheit, einen Blick in die Räume des Klosters zu werfen. Die Zimmer sind vom Komfort natürlich nicht mit Santa Klara zu vergleichen, aber die Unterkunft hat Pilgerflair.

Bei einer Dose Cerveza gebe ich meine Erlebnisse des Tages zum Besten. Wir lachen viel, bis von drinnen ein verärgertes Knurren, verbunden mit einem Rumsen, nach draußen dringt. Sind wir zu laut? Noch einige Minuten unterhalten wir uns in gedämpften Ton, dann ist es Zeit für mich zu gehen. An der Tür holt mich Kyle ein, erklärt mir, dass es ja nicht sicher sei, ob wir uns nochmal wiedersehen, und bittet mich, ihm ein Anliegen zu nennen, für das er beten könne. Ich bin geplättet und gerührt – das hätte ich nicht erwartet. Tatsächlich gibt es ein Anliegen, für das er beim „Chef “ oben ein gutes Wort für mich und meine Familie einlegen könnte. Ich verspreche ihm im Gegenzug, ebenfalls für ihn und seine Priesteramtspläne zu beten, dann trete ich durch den kleinen und niedrigen Eingang in die Nacht hinaus.

Es ist immer noch lauschig warm, als die junge Frau zum zweiten Mal auf dem kleinen Platz vorgefahren kommt und mich einsammelt. Schnell hat der Wagen den Weg zur Pension zurückgelegt. Ich bedanke mich und gehe in mein Zimmer. Ein wenig irritiert bin ich, dass ich keinen Schlüssel für die Zimmertür bekommen habe – die Schiebetür muss also während der Nacht unverschlossen bleiben. In dem Raum ist es ziemlich warm, ich lüfte durch und nehme einige der Decken vom Bett – in dieser Nacht wird ein dünnes Laken ausreichen.

Dankbar schaue ich auf den Tag zurück: Was ist Gott doch so gut zu mir. Erst lässt er mich zappeln und ein wenig hadern, dann bekomme ich doch noch den ersehnten Abend mit den anderen Pilgern geschenkt. Ein schöner und wieder lehrreicher Camino-Tag geht zuende.

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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