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Was bleibt?

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Nun hängt sie an meinem Bett an der Wand – die Jakobsmuschel, die ich drei Wochen lang durch Nordspanien getragen habe. Der Rucksack ist ausgepackt, die Wäsche ist gewaschen, der Führer steht – ziemlich zerfleddert – im Regal. Auf dem Laptop warten rund 3000 Fotos darauf, sortiert zu werden. Für den Credential mit seinen Stempeln werde ich noch einen Ehrenplatz suchen.

Und noch ein Andenken habe ich an meinen ersten Camino: zwei wunderschön dicke Füße. Das habe ich mir selbst zuzuschreiben, weil ich am letzten Tag weitergelaufen bin, statt eine Pause einzulegen und mich auszuruhen. Mit Salbe, Umschlägen und der guten Pflege meines Krankenschwester-Schatzes bekomme ich das in den nächsten Tagen aber in den Griff.

„Wir wünschen Dir eine erfolgreiche Resozialisierung“, haben mir die Pfälzer Pilgerfreunde geschrieben, als ich nach Hause zurückgekehrt bin. In den ersten Tagen schwebe ich wie auf einer Wolke über den Niederungen des Alltags. Das Hirn ist freigepustet von so vielen unnützen Sorgen und Grübeleien. Im Herzen fühle ich einen tiefen Frieden.

Die Familie drängt mich, zu erzählen: Wie war es auf dem Camino? Doch es fällt mir noch schwer, das Erlebte in Worte zu fassen. Ich berichte von den Pilgern, die ich unterwegs ken- nenlernen durfte, gebe einige Anekdoten zum Besten, schildere prägende Erlebnisse – wie das „Geschenk des Himmels“, der Trekkingstock, der mich vor Noja gerettet hat. Doch erzählen, wie der Camino war, was er mit mir und meinem Leben gemacht hat, kann ich noch nicht – zu frisch ist das alles. Ich habe den Eindruck, dass ich das alles erst einmal selbst verarbeiten muss, erst einmal einsortieren und bewerten muss.

Ein paar freie Tage später hat mich der Alltag wieder, das Berufsleben, die Termine. Ich versuche, den Jakobsweg-Frieden in meinem Herzen zu bewahren. Bei den ersten neuen Schritten auf dem Camino de la Vida gelingt mir das mühelos, doch dann treffen mich die Sorgen, Probleme und Nöte des Lebens wieder mal mit ganzer Wucht. Ein großer Teil der Ruhe, die ich in den drei Wochen auf dem Camino del Norte gebunkert hatte und von der ich in den Tagen und Wochen danach zehrte, ist aufgebraucht.

Ich hadere damit und trauere dem vermeintlich verlorenen Zustand hinterher, bis mir zwei Sachen klar werden: Zum einen hätte ich die Schläge des Schicksals wohl weitaus weniger gut verkraftet, wenn ich nicht auf dem Jakobsweg gelaufen wäre. Zum anderen ist es wohl illusorisch zu hoffen, man könne für den Rest des Lebens in diesem herrlichen Gemütszustand bleiben. Dazu sind die Wogen des Alltags wohl zu hoch.

Nichts hindert mich aber daran, im Pilgermodus zu bleiben und mich ab und zu in die Herberge meines Herzens zurückzuziehen, wenn es draußen mal wieder stürmt. Ich denke dann an die vielen, vielen schönen Momente dieses Camino zurück, denke daran, wie gut es Gott mit mir in den drei Wochen gemeint hat – und bekomme so neue Kraft für den Alltag. „Ab heute wirst Du jeden Tag einmal an den Weg erinnert“, haben mir die Pfälzer Pilgerfreunde geschrieben. Der Camino ist vorbei und doch nicht vorbei.

Ich muss daran denken, was mir die Pfälzer Pilgerfreunde noch sagten, als ich wieder heimatlichen Boden unter den Füßen hatte: „Der Camino hat sich nun auch bei Dir in Herz und Hirn eingebrannt. Wie eine schwelende Wunde… ist immer da, tut nicht richtig weh… manchmal ein sehnsüchtiges Ziehen… Damit musst Du nun zurechtkommen. Du hast es ja nicht anders gewollt.“

In der Tat zerrt die Sehnsucht nun immer mal wieder an mir – die Sehnsucht danach, ohne Verpflichtungen zu sein, losgelöst vom Alltag, auf das Wesentliche reduziert, zufrieden mit dem, was ich habe, ohne das zu vermissen, was ich nicht habe, an der frischen Luft zu sein, in wunderschöner Natur Atem zu holen, barfuß zu sein, wann immer ich will. Dazu die Gesellschaft Gleichgesinnter, die mir nichts neiden, sondern mir Gutes tun und mich an ihren Erfahrungen teilhaben lassen.

Ein wenig bedauere ich, dass ich nicht nächstes Jahr wieder den gelben Pfeilen nachgehen kann. Und das Jahr darauf. Sooft es geht, soweit die Kräfte reichen, soweit die Füße tragen, bis zum Ende meines Lebens. Doch mein Platz ist hier, bei meiner Frau und meinen Kindern, in meinem Job, inmitten all der Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Mein Platz ist auf dem Camino de la Vida – leider ohne gelbe Pfeile.

Und wenn Gott will, werde ich ja in drei Jahren erneut auf dem Camino del Norte unterwegs sein – gemeinsam mit meinem Schatz. Die verrückte Idee, mit den Kindern von Santiago nach Finisterra zu pilgern und dort unsere Silberhochzeit zu feiern, wird dann vielleicht – hoffentlich – auch Wirklichkeit.

Als ich damit beginne, meine Camino-Erlebnisse niederzuschreiben, laufe ich den Jakobsweg ein zweites Mal. Es tut so gut, sich zu erinnern. Wunderschöne Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf, fast vergessen geglaubte Begebenheiten kommen mir wieder zu Bewusstsein. Mein Schatz gehört zu den eifrigsten Lesern – und erhält durch das, was mir in den vergangenen Monaten aus den Fingern geflossen ist, einen viel besseren und tieferen Einblick in mein Camino-Seelenleben, als es mündliche Erzählungen könnten.

Nun bin ich auch virtuell erneut zu Hause angekommen. Der Jakobsweg wird Teil meines Lebens bleiben. Und er schafft neue Verbindungen: So werde ich, als ich am Schultor meine Tochter verabschiede, von einem Mann mit einem freundlichen „Buon Camino“ begrüßt. Es ist ein Bekannter meiner Frau, der von ihr erzählt bekam, dass ich dieses Jahr auf dem „Norte“ unterwegs war. An seiner Jacke baumelt eine Jakobsmuschel. Ich erfahre, dass er schon mehrfach auf dem Camino gepilgert ist – und auch schon einige Bücher über den Jakobsweg geschrieben hat. Die Jünger des hl. Jakobus sind überall.

Prägend war auch die Erfahrung, mit nur ganz wenigen Dingen auszukommen und trotzdem zufrieden zu sein. Als mein Schatz vergangenes Jahr von seinem Camino zurückkehrte, empfand sie die zahllosen Dinge im Haus als bedrückend, wünschte sich mehr Luft zum Atmen, weniger Besitz. Damals habe ich das nicht wirklich verstanden: Schließlich hat man viele dieser Sachen selbst einmal angeschafft (oder geschenkt bekommen), man braucht sie doch, und an manchen Dingen hängen ja auch Erinnerungen.

Heute verstehe ich, was sie gestört hat. Die meisten Sachen im Haus sind einfach nur da, aber man benutzt sie nicht. Sie nehmen Platz weg, engen das Leben ein, bereichern es aber nicht. Schon lange vor meinem Camino war ich angetan von der Minimalismus-Bewegung: Weniger ist mehr! Allerdings war es eine theoretische Begeisterung, mehr eine Faszination.

Aber selbst etwas ändern? Einige Wochen nach meiner Rückkehr habe ich mir den Kleiderschrank vorgenommen: Was hatte ich länger als ein Jahr nicht mehr in der Hand geschweige denn am Körper? Der Stapel auf dem Bett wurde immer größer, und mit jedem Stück, das ich aus dem Schrank nahm, wurde das Herz leichter. Zwei große Säcke Klamotten habe ich weitergegeben – und im Schrank ist endlich wieder Platz.

Seitdem durchforste ich immer mal wieder – wenn etwas Zeit ist – die Zimmer unseres Zuhauses nach Dingen, die wir nicht (mehr) brauchen. Zahllose Sachen haben über das Netz schon neue (hoffentlich glückliche) Eigentümer gefunden. Doch es gibt noch viel zu tun. Das Leben entrümpeln – eine weitere Frucht des Camino.

Und was ist aus meinem Motto geworden, aus dem Leitspruch „Ich nehme es so, wie es kommt“, den ich mir für den Jakobsweg auf die Fahnen geschrieben habe? Auf dem Weg durfte ich lernen, konnte üben in den Situationen, die mir begegneten. Frei nach dem Grundsatz „Gott schenkt Dir keine Geduld, sondern Gelegenheiten, die Geduld zu üben“ habe ich auf dem Camino erleben dürfen, wie mit jedem Tag das Herz ruhiger und freier wurde.

Und daheim? Auf dem Camino de la Vida? Hier ist es wesentlich schwieriger, gelassen zu bleiben. Man kann den Dingen, die täglich auf einen einprasseln, nicht entfliehen, hat aber genügend Gelegenheit, sich darin zu üben, den Frieden des Herzens zu bewahren. Die Erfahrungen auf dem Camino helfen dabei. Im Alltag heißt es ab jetzt, mutig voranzugehen statt zu verzagen. Wie stand es auf der Mauer in dem Dorf hinter San Sebastian? Ultreia! Immer voran, dem Ziel entgegen!

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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