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21. Tag: Von Llanes nach Piñeres (22 Kilometer)

Und wieder fühle ich mich wie im Paradies. Über mir spannt sich der babyblaue Himmel, von der Sonne beschienen. Rechts neben mir rauscht das tiefblaue Meer, vor mir liegt saftiggrüner Rasen. Ich befinde mich auf der Uferpromenade Paseo de San Pedro. Ein schönes Wohnzimmer hat sich der Apostel Petrus da ausgesucht: Rund einen Kilometer lang ist dieser wunderschöne Park, besäumt von Natursteinmauern und bestückt mit zahlreichen, teilweise in bizarren Formen gewachsenen Bäumen.

Ich bin glücklich, dass die Uferpromenade Teil des Jakobsweges ist. Dieses Glück muss ich heute morgen mit niemandem teilen, sieht man von dem einsamen Jogger ab, der mir entgegenkommt. Ansonsten bin ich mutterseelenallein. Meine nackten Füße werden im Gras von Morgentau benetzt. Immer wieder bleibe ich stehen, um ein Foto zu machen oder einfach ein paar Minuten aufs Meer hinauszuschauen. Heute habe ich keine Eile, es ist mein letzter „richtiger“ Camino-Tag, und ich habe kein festes Ziel – ich will einfach nur noch weiterlaufen auf dem Jakobsweg. So weit mich heute die Füße tragen.

Als ich in der Bahnhofsherberge die Augen aufgeschlagen habe, lagen die Spanier noch alle in Morpheus´ Armen. So leise wie möglich habe ich meine Sachen gepackt, was angesichts des klapprigen Metallspinds gar nicht so einfach war. Dann habe ich mich aus dem Zimmer geschlichen. Die Nacht war ruhig und gut – von den Jugendlichen war ebensowenig etwas zu hören wie von den Zügen. Im Essensraum war gedämpfter Betrieb – rund ein Dutzend junger Leute machte sich über Berge von Toastbrot her. Laut war es aber nicht, viele Jugendlich hatten kleine Augen, schienen in der Nacht nicht viel geschlafen zu haben. Zudem banden die Smartphones ein großes Stück Aufmerksamkeit.

Die nette Herbergswirtin von gestern war leider nicht zu sehen – ich hätte mich gerne noch von ihr verabschiedet. Also bin ich losgestiefelt: zur Kirche, dann an den Stadtstrand und dann die Treppen hinauf zur Uferpromenade.

Gemütlich schlendere ich nun durch das feuchte Gras, danke Gott für den schönen Tag und die wunderbare Natur. Ganz Llanes scheint noch im Tiefschlaf zu liegen, wird nun aber von den Glocken der Kirche geweckt, die durch das ganze Tal schallen. Irgendwann – nach einer gefühlten Ewigkeit – komme ich an den Stadtrand. Hier endet leider auch die grandiose Uferpromenade. Es geht nach links auf eine Straße, die kurz darauf in eine Hauptverkehrsstraße mündet. Auch hier ist noch nicht viel los. Ich überquere die Straße und einen Bahnübergang. Eine schmale Piste lässt mich bald darauf das Dörfchen Póo erreichen.

Kurz nach dem Ortseingang mache ich an der Kirche Halt. Meine Haut braucht mal wieder eine Schicht Sonnencreme, sonst bin ich angesichts des strahlenden Sonnenscheins bald krebsrot. Zudem spüre ich ein Zwicken im rechten Schienbein. Diesen latenten Schmerz kenne ich nur zu gut – das Bein meldet Überlastung. Ganz ähnlich hat es sich angefühlt, als ich vor einer Woche in Santander nicht mehr weiterlaufen konnte. Und ein solcher Schmerz hat mir bei einer Wallfahrt in Frankreich auch mal eine ausgedehnte Fahrt mit dem Bus beschert. Doch hier auf dem Jakobsweg gibt es keinen Besenwagen.

Ich überschlage die Alternativen: normalerweise würde ich jetzt sofort umdrehen, die drei Kilometer nach Llanes zurückgehen, mich wieder in der Bahnhofsherberge einmieten, einen Tag ausruhen und dann morgen weitergehen. Heute ist aber nichts normal, heute ist mein letzter Camino-Tag – und ich will weiter. Soll das Bein doch wehtun, ab morgen kann ich mich ja ausruhen, denke ich und gehe weiter.

Kurz hinter Póo führt mich der Weg wieder in Richtung Küste. Der Führer schlägt mir einen kleinen, rund 400 Meter langen Umweg vor, den ich natürlich mitnehme, ist es doch eine der letzten Möglichkeiten dieses Tages, den Ozean zu bewundern – heute nachmittag wird es wieder mehr ins Landesinnere gehen. Bald darauf kommt die Küste in Sicht. Asturien zeigt sich auch hier von seiner Schokoladenseite: Die Bergkette auf der linken Seite ist von Wolken garniert wie eine Torte mit Sahnehäubchen, rechts bietet sich mir der Blick auf zerklüftete Felsen und das schäumende Meer. Auf einem Felsvorsprung steht eine Ruine. Ob es mal eine Kapelle war oder ein anderes Haus, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Was dagegen sicher ist: dies ist ein toller Platz für eine kleine Rast.

Das haben sich offensichtlich auch die drei spanischen Rentner gedacht, die gemeinsam unterwegs sind und nun auf einem Felsen sitzen. Ich stelle meinen Rucksack unter einen Torbogen, schieße unzählige Fotos und stapfe – natürlich ohne Schuhe – durch das Heidekraut. Ein paar Schritte weiter liegt eine kleine Bucht, wie geschaffen für einen weitgehend ungestörten Badetag. Sie ist nämlich nur über winzige Stufen zu erreichen, die halsbrecherisch steil nach unten führen. Nicht viele Leute werden es wagen, hier herunterzusteigen – mich eingeschlossen.

Ich schnappe mir meinen Rucksack und gehe weiter. Kurz darauf sehe ich ein bekanntes Gesicht: es ist Nils, den ich im Kloster Zenarruza kennengelernt, dann aber nicht mehr wiedergesehen habe. Er erzählt mir, dass er gesundheitliche Probleme mit den Beinen hatte und sich in der Apotheke erst einmal mit zahlreichen Bandagen eingedeckt hat. Dass ich ebenfalls heute Malessen mit dem Schienbein habe, verschweige ich taktvoll. Wir gehen ein Stück gemeinsam, bis wir Celorio erreichen. An einer Weggabelung trennen wir uns wieder: Nils will einfach weiter den Pfeilen folgen, ich dagegen möchte eine weitere in meinem Führer beschriebene Alternative gehen. Wir wünschen uns Buon Camino, und dann ist Nils verschwunden. Ob ich ihn noch einmal wiedersehen werde?

Das „Kloster, das direkt am Strand steht“, ist zwar nicht so spektakulär anzusehen wie erhofft, dennoch lohnt sich der neuerliche Umweg, denn direkt nach dem Kloster folgt ein weiterer, wunderschöner Strand. Hier ist ganz schön Betrieb; zwar sind die umliegenden Restaurants und Bars alle noch geschlossen, auf dem Sand aber tummeln sich zahlreiche Kinder und Jugendliche. Offenbar handelt es sich hier um Teilnehmer einer Surfschule. Alle tragen Neoprenanzüge, stehen im Halbkreis um ihre Betreuer herum und nehmen Instruktionen entgegen. Surfen lernen – das steht auch noch auf meinem Lebensplan…

Ich flaniere auf der kleinen Promenade und blicke noch ein wenig aufs Meer hinaus, bevor ich weitergehe und nach 300 Metern die Landstraße erreiche. Ich durchquere den Ort Barro und laufe weiter die Landstraße entlang. Ich komme an eine kleine Bucht, in der das Meer dem Land sein Territorium streitig macht – zumindest zeitweise, denn derzeit ist Ebbe. Die Bucht präsentiert sich so als matschige Ödnis, bei Flut aber ist der Ort sicher ein Idyll – was zu einem guten Teil an der Pfarrkirche liegt, die direkt ans Ufer gebaut ist. Das Gotteshaus bekommt bei Flut bestimmt nasse Füße, bietet dann aber sicher ein atemberaubendes Fotomotiv.

Ich umrunde die Kirche, überquere eine Holzbrücke und stapfe dann an einer Kapelle einen Waldweg hinauf. It’s barefoot-time again, zumindest für die nächsten 800 Meter, bis ich wieder die Landstraße erreiche. Vor mir liegt der Ort Niembro, und vor mir liegt eine weitere Entscheidung. Der Führer offeriert mir nämlich erneut eine Wegalternative, und zwar so vehement, dass der Autor die Route als Standardroute eingezeichnet hat, obwohl der offizielle Jakobsweg weiter die Landstraße entlangführt.

Der vorgeschlagene Weg ist länger und deutlich schöner, aber auch anstrengender – denn es handelt sich um den Aufstieg auf einen durchaus imposanten Hügel, auch wenn er auf dem Papier nur knapp 200 Höhenmeter aufweist. Dort hat man sicher einen tollen Ausblick aufs Meer, allerdings meldet sich mein Schienbein mit ähnlicher Vehemenz wie des Autors Empfehlung. Ich ignoriere den stechenden Schmerz und entschließe mich, diesen Umweg auch noch mitzunehmen.

Doch wo muss ich hin? „Der Weg ist hier gut ausgezeichnet“, heißt es in meinem Führer. Das kann ich ganz und gar nicht unterschreiben. Dass es den Berg hinaufgeht, ist klar; doch welche Abzweigung soll ich einschlagen, um wie im Führer beschrieben im Zickzack den Hügel hinaufzukommen? Zwei spanische Pilger – offensichtlich Vater und Tochter – stehen anscheinend vor derselben Frage: Ein wenig ratlos stehen sie da und konsultieren schließlich einen älteren Herrn, der aus einem Haus am Straßenrand tritt. Wie praktisch, jetzt bekomme ich sogar noch Dolmetscherdienste für meine unausgesprochene Frage.

Der Anwohner zeigt den Hügel hinauf und spricht von einer Sendeanlage. Genau, das ist der richtige Weg – davon ist in meinem Buch die Rede. Dann aber fragt der Mann die beiden Spanier, warum um alles in der Welt sie denn da hochwollen; der Jakobsweg verlaufe doch unten im Tal. Der Umweg sei nur beschwerlich und zeitraubend. Nachvollziehbare Argumente, vor allem angesichts der nun brennenden Mittagssonne. Das spanische Pilgergespann trollt sich daraufhin in Richtung Tal, ich aber wende mich bergauf, nicht ohne zuvor noch den Anwohner erfolgreich um das Auffüllen meiner Trinkflasche gebeten zu haben.

Gelbe Pfeile sind hier Mangelware, als ich aber den Zickzack-weg betreten habe, finde ich Hinweisschilder auf den Küstenweg E-9. Am Ende von Niembro geht es noch ein Stück weiter bergauf; schon ist das Meer zu sehen – ich ahne, dass mir gleich der nächste atemberaubende Ausblick bevorsteht. Als ich aber den Aussichtspunkt an einem geschotterten Parkplatz erreicht habe, bin ich wieder einmal restlos geflashed: Vor mir liegt eine kleine Halbinsel, zu der ein schmaler Trampelpfad führt. Rund um die Halbinsel funkelt der Ozean im Sonnenlicht, rechts und links stemmt sich die asturische Steilküste mit warmen Brauntönen und sattem Grün dem Meer entgegen.

Ich hänge mal wieder die Flip-Flops an den Gürtel und gehe bis zu einer steinernen Stele. Dort stelle ich meinen Rucksack ab, gehe noch ein paar Schritte weiter und setze mich dann in den Sand. Dass ich leider kein Picknick dabei habe, wurmt mich ebensowenig wie die Tatsache, dass mein Wasservorrat wieder mal zur Neige geht – dieser Ausblick lässt dies ebenso vergessen wie mein Ziehen im Schienbein. Ich sitze bestimmt 20 Minuten da und schaue auf Gottes grandiose Natur. Was für ein Geschenk!

Endlos hätte ich hier verweilen können, doch dann muss ich weiter. Hinter dem Parkplatz geht es erneut den Berg hinauf, bis ich kurz darauf vor der Sendeanlage stehe. Der Weg windet sich an Weiden vorbei, auf denen nicht nur Schafe und Kühe grasen, sondern auch einige Stiere; diese beäugen mich wachsam. In meinem roten Outdoorhemd fühle ich mich ein wenig wie ein Torrero und hoffe, dass der lächerlich dünne Draht zwischen Weide und Weg die Stiere davon abhält, mich in die Arena zu bitten.

Das Wasser geht nun endgültig zur Neige – nicht gerade beste Rahmenbedingungen, um den Schmerz in meinem Schienbein halbwegs im Zaum zu halten. Es wird Zeit für einen Brunnen oder eine Wasserstelle. Aber an meinem letzten „richtigen“ Camino-Tag lasse ich mir auch davon nicht die Laune verderben.

Hinter der Sendestation kann ich – wie es im Führer angekündigt ist – tatsächlich einen Blick auf die Picos de Europa werfen. Die Berge sehen trotz der in der Mittagshitze ein wenig dunstigen Luft imposant aus. Irgendwann geht es wieder bergab, bis ich schweißgebadet und ein wenig müde von dem rutschigen Schotterweg im Tal die Nationalstraße erreiche.

Ich bin sehr gespannt, denn hier soll sich eine malerische verlassene Klosteranlage befinden. Und tatsächlich entdecke ich auf der rechten Seite einige Gebäude, die sich um eine schöne Kirche gruppieren. Das Areal ist kräftig mit Unkraut bedeckt und sieht aus, als sei schon lange niemand mehr hiergewesen. Ein Schild am Eingang klärt mich auf, dass es sich um das frühmittelalterliche Kloster San Antolín de Beón handelt. Ich entledige mich meiner Flip-Flops und gehe durch das Gestrüpp auf die Anlage zu.

Ein eigentümliches Gefühl beschleicht mich: schon vor Jahr- hunderten haben hier gottesfürchtige Männer gelebt, gebetet und gearbeitet. Warum haben die Mönche wohl diese wunderschön am Meer gelegene Klosteranlage verlassen? Wurden sie vertrieben? Gab es keinen Nachwuchs mehr? Oder konnten sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten? Ich werde es wohl nie erfahren, denn auch das Internet, das ich nach meiner Rückkehr konsultiere, gibt darüber keinen Aufschluss.

Die Gebäude sind nicht gerade in einem guten Zustand. Ein Haus wird sogar als Stall genutzt – ein Pferd schaut mich mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an, als ich den Hof betrete. Die Kirche dagegen ist in excellent condition – zumindest von außen. Hier scheint der Staat (oder die Kirche, oder jemand anders) seine restaurierende Hand angelegt haben. Zu gerne hätte ich einen Blick ins Innere der Kirche riskiert oder sogar eine Zeit darin verweilt, aber die Pforten sind verriegelt und teilweise sogar mit Ketten gesichert.

So umrunde ich einmal das Kirchlein, banne den Anblick auf den Speicherchip meines iPhones und mache mich wieder von dannen – offenkundig sehr zur Erleichterung des Pferdes, das mir noch eine Weile hinterherblickt.

Ein paar Meter weiter die Straße entlang treffe ich auf einen weiteren wunderschönen Sandstrand. Ich entdecke nicht nur das niederländische Pilgerpaar, das mir am Vortag die Tortilla empfohlen hat, sondern auch Nils hat es sich am Strand bequem gemacht. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, hält er ein Nickerchen oder hört Musik – ich kann auf die Entfernung nicht erkennen, warum er auf mein Rufen nicht reagiert.

Ich überlege kurz, ob ich ebenfalls hier rasten soll, aber es treibt mich weiter. Meine letzte Nacht möchte ich gerne in Piñeres bei Rosa (warum heißen so viele Hospitaleras Rosa?) verbringen; die Beschreibung klingt verheißungsvoll, allerdings gibt es dort auch nur zehn Betten. Auf dem Weg befinden sich zwar noch zwei Pilgerpensionen, doch ich will den letzten Abend unbedingt in Pilgergesellschaft verbringen – am liebsten mit bekannten Gesichtern.

Ich lasse also den Strand hinter mir und gehe weiter. Bald erreiche ich Naves, ein schnuckeliger kleiner Ort mit Bruchsteinmauern und einem schönen Dorfplatz. Es gibt einen Brunnen, an dem ich meine Flasche füllen kann; Bäume spenden ein wenig Schatten. Zwei Bars laden zum Verweilen ein. Laut meinem Führer gibt es hier auch eine Einkaufsmöglichkeit, aber ich kann nirgendwo einen Laden entdecken.

Ich nähere mich einem jungen Pärchen, um zu fragen, was der Hund zu ihren Füßen überhaupt nicht lustig findet. Mit lautem Gebell zerrt er an der Leine und sieht aus, als hätte er mächtig Appetit auf mich. Mühsam beruhigen die beiden das Tier und erklären mir dann auf meine Frage hin, dass es in Naves kein Geschäft gibt – da müsste ich einen Ort weiter.

Dumm nur, dass mein Appetit mittlerweile ähnlich groß ist wie der des Hundes – nur dass ich dabei nicht belle. Ich gehe zu einer der Bars und entdecke vor der Tür einen Automaten mit allerlei Leckereien darin, so wie er bei uns auf jedem Bahnsteig zu finden ist. Etwas Deftiges ist leider nicht darin (so ein Stück Tortilla wäre himmlisch gewesen), dafür lacht mich ein süßes Teilchen an. Ich werfe das Geld ein und schaue zu, wie sich die Spiralen in Bewegung setzen, um den Einkauf freizugeben.

Ich denke an den Automaten in unserer Kantine und hoffe, dass hier nichts hängenbleibt. Das Teilchen wird nach vorne in Richtung Luke geschoben – und bleibt natürlich kurz vor dem Ziel an einer Metallkante hängen. Na toll, das war ja klar. Zaghaft klopfe ich gegen das Gerät, um ihm die bezahlte Leckerei zu entlocken. Doch es tut sich nichts. Ich betrete also die Bar und treffe auf einen jungen Mann, der mich fragend anschaut. Ich deute auf den Automat und sage „problema“ – zu mehr reicht es in dieser misslichen Lage nicht. Der Mann begleitet mich zum Automaten, erfasst mit einem Blick die Situation, geht einen Schritt zurück und tritt dann mit Wucht gegen die Front. Der Automat bekommt einen ebenso großen Schrecken wie ich und beeilt sich, das Teilchen herzugeben. Ich bedanke mich grinsend bei dem Mann – so hätte ich das Problem auch gerne gelöst, aber ich habe mich nicht getraut. Am Ende wäre ich nicht bei Rosa gelandet, sondern in einer Polizeistation…

Ich gehe ein Stück weiter aus dem Ort heraus und knuspere mein Teilchen. Dann bleibe ich stehen – ich habe vor lauter Hungerstillen nicht aufgepasst. Bin ich noch auf dem richtigen Weg? Ich gehe ein paar Schritte zurück, als mir ein älterer, drahtiger Pilger entgegenkommt. Er zeigt in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Gemeinsam setzen wir unseren Weg fort. Der Mann ist Franzose und erklärt mir, dass er jedes Jahr nach Spanien kommt, um zwei Wochen auf einem der Jakobswege zu pilgern.

Wir plaudern noch ein wenig, dann erreichen wir Villahormes. Auf der rechten Seite liegt die touristische Herberge des Ortes. Das Gebäude sieht von außen sehr heimelig und einladend aus. Da mein Schienbein mittlerweile immer mehr Zicken macht, überlege ich kurz, ob ich nicht doch hier unterkriechen soll. Ich verabschiede mich von dem Franzosen, um meinen Führer zu konsultieren. Dieser erzählt mir, dass es sich bei dem prächtig anzusehenden Gebäude nicht um die Pilgerunterkunft handelt, sondern um ein Landhaus, das sich die Übernachtung fürstlich entlohnen lässt. Die 24 Betten für Pilger sind dagegen in einem „etwas engen Schlafsaal mit wenig Tageslicht“. Dankeschön, dann gehe ich lieber weiter.

Bald darauf stehe ich vor der Kapelle San Antonio. Es geht weiter durch den Wald. Ein paar Minuten später treffe ich erneut den Franzosen; er sitzt auf einem großen Stein und hält sich den Knöchel. Ich bleibe stehen und frage, ob er Hilfe braucht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schüttelt er den Kopf. Es sei sein letzter Tag auf dem Camino, und da tue ihm immer der Fuß weh. „Der Camino will eben nicht, dass ich gehe – er ruft mir zu: bleib hier“, sagt der Franzose. Ich bin sprachlos: Sollte das auch der Grund für meine Schmerzen sein? Ich denke an den Tag in Santander zurück, als ich mit dem Zug nach Santa Cruz weiterfahren musste – auch das war ja ein verkappter letzter Tag. Vielleicht ist an der Theorie des Franzosen etwas dran…

Ich erzähle ihm von meinen Überlegungen, dann gehen wir gemeinsam noch ein Stück weiter, ehe er an einer Wasserstelle eine weitere Rast einlegt. Ich stapfe weiter durch den Wald. Bei Güergu treffe ich den spanischen Vater mit seiner Tochter wieder, die mit mir in Niembro nach dem Weg zur Sendestation gefragt haben. Ich verlangsame etwas das Tempo, doch die beiden sehen nicht so aus, als wären sie auf ein Gespräch aus.

Zeitgleich erreichen wir den Ort Nueva. Laut Führer soll ich hier etwas zu essen kaufen, da es in Piñeres keine Einkaufs- möglichkeit gibt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob noch ein Laden geöffnet ist – immerhin zeigt die Uhr schon 15 Uhr an. Nueva ist ganz nett anzuschauen – es ist laut Führer in einem Wettbewerb zum schönsten Dorf Asturiens gekürt worden. Das ist allerdings schon lange her – es war 1958.

Am Dorfplatz befinden sich gleich mehrere Geschäfte. Ich betrete aufs Geratewohl den ersten Laden; dort gibt es allerdings nur Wurstwaren und Obst. Auf der anderen Straßenseite ist die Auswahl größer. Ich stelle meinen Rucksack an der Kasse ab und mache mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Während ich durch die Regale schlendere, schaut mir der ältere Herr an der Theke interessiert zu. Den Arm voll mit Sachen, kehre ich zur Kasse zurück und zahle. Dann verstaue ich die Einkäufe im Rucksack, während der Ladenbesitzer in den Fragemodus wechselt.

Wo ich herkomme, will er wissen. Und ob ich ein Jakobspilger bin. Ich antworte so gut es geht auf Spanisch, verabschiede mich und mache mich dann wieder auf den Weg. Auf der Straße sehe ich einige weitere Pilger, die ebenfalls nach einer Einkaufsmöglichkeit Ausschau halten. Ich gehe an einigen Bars vorbei und entdecke auch das Hinweisschild zum Bahnhof – wenn alles klappt, werde ich morgen früh hier nach Santander zurückfahren.

Dann verspüre ich Durst. Wo ist eigentlich meine Trinkflasche? Irritiert bleibe ich stehen und denke nach. Dann fällt es mir ein: Ich habe die Flasche in dem Laden an der Kasse abgestellt, um die Geldbörse zu zücken. Kurz überlege ich, ob es sich lohnt, umzudrehen und die Flasche zu holen. Ich könnte mir ja woanders eine neue Wasserflasche zulegen – zudem muss ich mich morgen ohnehin von ihr trennen, denn für den Flieger ist sie zu groß. Andererseits hänge ich an dem blauen Teil, das ich zu Beginn meines Weges in Pasaia erstanden habe – schließlich hat mich die Flasche bei meinem Sturz bei Castro-Urdiales vor einer Verletzung bewahrt.

Ich kehre also um und stehe kurz darauf wieder vor der Tür des Ladens. Die ist allerdings zu – offensichtlich hat der Ladenbesitzer direkt hinter mir dichtgemacht und eine verspätete Siesta angetreten. Durch die Fenster kann ich neben der Kasse meine blaue Flasche stehen sehen. Hinten im Laden bewegt sich etwas – eine junge Frau geht durch die Regale. Vielleicht eine Angestellte oder die Tochter. Ich drücke auf den Klingelknopf neben der Tür und klopfe an die Fensterscheibe. Glücklicherweise hört die junge Frau meinen Radau und öffnet mit einem fragenden Gesichtsausdruck die Tür. Ich deute auf meine Flasche neben der Kasse – und erhalte das gute Stück wieder.

Nach wenigen Schritten bleibe ich schon wieder wie angewurzelt stehen. Vor einer Bar steht ein Schild mit einem Wifi-Symbol. Ich würde gerne ein paar Bilder in die Heimat schicken und das iPhone aufladen – der Akku macht bald die Grätsche. Kurz darauf sitze ich am Tresen, schlürfe einen Kaffee und betrachte mir den Wetterbericht auf einem großen Bildschirm an der Wand.

Bis Piñeres ist es nicht mehr weit. Das ist auch gut so, denn das rechte Schienbein sagt mir mittlerweile ziemlich deutlich, dass es reicht. Müsste – oder besser dürfte – ich morgen weitergehen, wäre das durchaus ein Grund zur Besorgnis. Aber für die Rückreise dürfte es reichen; das hoffe ich zumindest. Meiner Camino-Freude tut es jedenfalls keinen Abbruch.

Am Ortsausgang biege ich vor einem Bahnübergang auf einen Feldweg ab. Noch einmal geht es rund einen Kilometer durch die Natur; die Idylle wird lediglich gestört durch die nahe Autobahn. Schließlich erreiche ich die ersten Häuser von Piñeres. Doch wo ist die Herberge? Der Führer hält sich in dieser Frage ein wenig bedeckt. „…und dann sind Sie bei Rosa angekommen“, heißt es dort lapidar. Besonders gut ausgeschildert ist die Herberge nicht. Vor einem großen Holztor bleibe ich stehen. Vor dem Wohnhaus steht im Garten eine weitere kleine Hütte – das könnte passen. Ich trete näher und vergleiche die Telefonnummer an der Pforte mit der im Führer. Bingo, ich bin da. Erst als ich durch das Tor trete, entdecke ich Blindfisch noch das Schild mit der Aufschrift „La Llosa de Cosme“; der Name steht ebenfalls im Führer.

Die letzten Zweifel verfliegen, als ich vor der Hütte einige Wanderstiefel und Trekkingstöcke entdecke. Zudem prangt an der Hauswand eine große Jakobsmuschel. Ich öffne die Tür und blicke ins dämmrige Innere. Einige Betten sind bereits belegt; ich sehe zwei spanische Mädels, die mir schon öfter über den Weg gelaufen sind, mit denen ich aber mangels Sprachkenntnissen nicht groß in Kontakt kam. Und dann setzt sich ein weiterer Pilger im Bett auf und schaut mich verschlafen an. Es ist Ilona. Als sie mich sieht, schält sie sich aus dem Schlafsack, dann fallen wir uns in die Arme. Damit hätte ich nicht gerechnet, dass ich sie hier wiedersehe.

Den letzten Abend werde ich also nicht alleine verbringen müssen – das nächste Geschenk, das dieser Tag für mich bereithält. Ich schaue mich ein wenig um. Es gibt eine Kochecke und ein kleines Badezimmer mit Dusche – alles sehr gepflegt und sauber. Doch wo melde ich mich an? Ilona winkt ab: sie sei schon einige Zeit hier, Rosa habe gesagt, dass sie den Papierkram später erledigen wolle. Zunächst habe sie die Pilgerwäsche eingesammelt. Das hört sich gut an, selbst waschen muss ich offenbar nicht.

Ich lege meinen Rucksack auf eines der Betten und trete dann wieder nach draußen, um mich weiter umzuschauen. Es beginnt zu nieseln. Von dem sonnigen Wetter, das ich bis zum Nachmittag genießen durfte, ist nichts mehr zu sehen. Das liegt wohl daran, dass ich mich nicht mehr am Meer befinde, sondern einige Kilometer im Landesinneren. Düster drücken sich einige Regenwolken an die nahen Berghänge. Ich gehe auf das Haupthaus zu und bemerke links einen Anbau, der offenbar ebenfalls für Pilger zur Verfügung steht. Drinnen gibt es eine weitere Kochgelegenheit, dazu einige Tische und Bänke und sogar ein paar Gesellschaftsspiele. Auf der Empore liegen einige Matratzen für müde Pilger bereit. Ich mache mir einen Kräutertee und setze mich eine Weile an einen der einladenden Holztische.

Als ich wieder auf den Hof trete, öffnet sich die Tür des Hauses und eine ältere, freundlich dreinblickende Dame schaut heraus. Ist das Rosa? Sie begrüßt mich herzlich und erklärt mir, ich solle meine Wäsche bald in einen bereitgestellten Plastikbottich legen, damit sie die Waschmaschine anwerfen kann. Ich bedanke mich, gehe zu der Hütte zurück und genehmige mir erstmal eine heiße Dusche. Anschließend schlüpfe ich in frische Klamotten und lege die verschwitzte Kleidung des Tages in die Plastikwanne.

Dann setze ich mich mit Ilona zu einem kleinen Plausch vor die Hütte – eine Markise schützt uns vor dem Nieselregen. Wir tauschen unsere Erlebnisse der vergangenen Tage aus und welche Pilger wir wann und wo zuletzt getroffen haben. „Ich frage mich, wo Nils steckt, ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen“, meint Ilona. Ich berichte ihr strahlend, dass er mir heute vormittag über den Weg gelaufen ist und ich ihn am Nachmittag nach dem verlassenen Kloster noch einmal gesehen habe.

Kaum habe ich es ausgesprochen, da erscheint eine baumlange, schlanke Gestalt mit Hut und Trekkingstöcken am Tor. Es ist tatsächlich Nils. Die Wiedersehensfreude ist groß. Dann schwingt sich Nils unter die Dusche, und ich mache mich auf Cerveza-Jagd. Einen Laden gibt es hier ja nicht, und auch die Herberge sieht nicht so aus, als bekäme man hier ein Bierchen. Am Ortseingang habe ich aber eine Bar gesehen, vielleicht habe ich da Glück.

Mittlerweile bin ich ziemlich am Humpeln, dennoch stehe ich schnell vor dem Gebäude, das von außen einen ziemlich schmuddeligen Eindruck macht. Doch als ich das Innere betrete, weiß ich, dass das noch zu toppen ist. Mit einem einzigen Atemzug habe ich bestimmt zwei Päckchen Zigaretten geraucht. Der Schankraum macht den Eindruck, als sei er zuletzt 1978 ge- lüftet worden – und das wohl noch unabsichtlich. In der Ecke plärrt ein Fernseher, einige Spanier lungern davor und schwängern die Luft mit weiterem Nikotin.

Hinter dem Tresen steht eine ältere Frau und wischt die Theke – mit einem Lappen, der aussieht, als sei er aus dem letzten Krieg. Es riecht modrig. Direkt hinter der Theke stehen verdreckte Schuhe, überall liegt Krempel herum. Ob ich in dieser Messie-Kneipe tatsächlich etwas erstehen soll? Ich ordere zwei Dosen Cerveza und sehe moderat erleichtert, dass die Frau das Gewünschte aus einer Kühlbox herauszaubert, die offenbar in einem wesentlich besseren Zustand ist als der Rest des Raumes – zumindest was die Sauberkeit angeht.

Ich zahle und verlasse dann fluchtartig die Bar und ihren Nikotinnebel. Vor der Herberge hat es sich Nils bequem gemacht, Ilona hat sich offenbar noch mal hingelegt. Ich trete ihm eine der Dosen ab; gemeinsam genießen wir den kühlen Gerstensaft und plaudern. Nils hat trotz seiner jungen Jahre schon einiges erlebt – unter anderem hat einen Studienaufenthalt auf Bali hinter sich.

Als Ilona wieder auftaucht, kommt die ältere Frau aus dem Wohnhaus, versorgt unsere Credentials mit Stempeln und kassiert die Übernachtungsgebühr. Wir erfahren, dass es nicht Rosa ist, sondern ihre Mutter. Dann muss Rosa die Frau gewesen sein, die vorhin mit zwei Kindern und dem Auto vom Hof gerollt ist.

Nils, Ilona und ich beschließen, gemeinsam etwas essen zu gehen, auch wenn wir dafür noch ein paar Kilometer nach Nueva und zurück auf uns nehmen müssen. Ich habe zunächst ein wenig Zweifel, ob ich das meinem Bein auch noch zumuten soll, aber die Vorfreude auf einen schönen Abend ist größer.

Kurz darauf stapfen wir zu dritt über den Feldweg in Richtung Nueva. Es hat aufgehört zu nieseln, kalt ist es auch nicht – ein richtig schöner Abend. In Nueva habe ich die Ehre, an meinem letzten Camino-Tag das Restaurant auszusuchen. Ilona klärt Nils über meine Vorlieben auf: „Mit Tischdecke“, grinst sie. Es ist allerdings gar nicht so einfach, die passende Location zu finden. Wir wollen möglichst draußen sitzen und gerne landestypisch essen. Keines der Lokale erfüllt beide Kriterien. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich wohl – ähnlich wie in San Sebastian – eine Runde gedreht, mir alle Möglichkeiten angesehen und dann ausgewählt. Mein Bein und unser Hunger streichen diese Option aus meinem Kopf.

Schließlich landen wir in einer Bar am Dorfplatz; die Terras- se hinter dem Haus ist leider geschlossen – es sei frisch gestrichen, erklärt uns der Kellner. Das nehme ich dem Mann nicht ab, wahrscheinlich ist er nur zu faul, nach draußen zu gehen, denke ich. Wenige Sekunden später tut mir dieser Gedanke gewaltig leid, denn ich bemerke, dass der Barkeeper ein Bein hinter sich herzieht. Also setzen wir uns an den angebotenen Tisch im Inneren – ohne Tischdecke. Ein Menü gibt es leider auch nicht, mittlerweile ist es uns auch ziemlich egal, was wir aufgetischt bekommen – Hauptsache wir werden satt und können uns unterhalten. Lediglich eine Flasche Rioja leiern wir dem Wirt noch aus den Rippen – zuerst wollte er uns mit irgendeinem Hauswein-Fusel versorgen.

Das Essen kommt schnell – und ist keine Offenbarung. Die Zusammenstellung ist abenteuerlich, die Speisen wurden zudem offenbar in der Mikrowelle aufgewärmt und sind stellen- weise noch kalt. Der Wein dagegen ist vorzüglich. Ich muss daran denken, dass Restaurantbesucher in Deutschland solch ein Essen aufgebracht hätten zurückgehen lassen (oder vielleicht sogar die Teller in die Küche geschleudert hätten). Das Erlebnis passt jedoch gut zu meinem Motto „Ich nehme alles so, wie es kommt“.

Wir haben ein wunderbares Gespräch, dass sich wieder um Familie, Kindererziehung und Kirche dreht. Zudem geben wir uns gegenseitig tiefe Einblicke in unser Leben – wieder einmal macht der Camino die Herzen weit. Ich fühle mich einfach nur pudelwohl in der Gesellschaft dieser beiden wunderbaren Menschen.

Etwas unsanft komplementiert der Wirt uns irgendwann hinaus. Man schließe jetzt. Wir trollen uns und machen uns langsam auf den Rückweg nach Piñeres. Mein Schienbein hat es offenbar mittlerweile aufgegeben, mich über seinen Zustand aufzuklären – der Schmerz hat ein wenig nachgelassen. Mehr als humpeln geht dennoch nicht. Kurz vor Piñeres wirft Nils noch einen Blick in die Nikotinspelunke, von der ich erzählt habe, dann haben wir die Herberge erreicht.

In der Unterkunft ist es bereits stockdunkel und still – die beiden spanischen Mädels und ein älterer Herr schlummern bereits selig. Ilona verabschiedet sich in Richtung Schlafsack, wir zwei Männer setzen uns noch ein wenig nach draußen und reden, bis es uns zu kühl wird. Dann entern wir ebenfalls unsere Betten. Ich versorge noch mein Bein und meine Fußsohlen mit Creme und warte, bis sie eingezogen ist, dann überlasse ich mich auch dem Sandmann.

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

 

 

 

Veröffentlicht von

Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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