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Sternstunden

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Tag 20: Von Pendueles nach Llanes (14 Kilometer)

Zuerst ist es totenstill. Man hört gar nichts, sieht man mal vom Gebimmel der Ziegen ab, die um mich herum über die Steine klettern. Ich lausche gespannt. Gleich muss es soweit sein. Ein leises Rauschen ist zu hören, nur eine oder zwei Sekunden lang – und dann geht es los. Ein ohrenbetäubendes Fauchen und Sausen bricht aus dem Loch zu meinen Füßen hervor. Hat es so geklungen, als damals der Heilige Geist in Jerusalem auf die Jünger herabkam? Das Fauchen hält ein paar Sekunden an, und dann ist von einem Augenblick zum anderen wieder Totenstille.

Ich fühle mich wie ein Zoowärter, der nur ganz kurz die Tür zum Tigerkäfig geöffnet hat und von einem hungrigen Raubtier begrüßt wurde. Es ist aber kein Tiger, der mich da anfaucht, sondern es sind die Bufones. Nachdem ich gestern mal gar nichts gehört habe, ist die See heute offenbar ein wenig aktiver – und liefert mir ein beeindruckendes Naturschauspiel. Das Loch in den Felsen der Steilküste ist vielleicht so groß wie ein Swimmingpool, allerdings ohne Wasser. Auf die spritzende Gischt muss ich auch heute verzichten, dazu ist das Meer nicht wild genug, aber die akustische Darbietung ist schon atemberaubend.

Ich mache mit dem iPhone ein paar Aufnahmen und bestaune dann die Ziegen, die mit schlafwandlerischer Sicherheit direkt an der Felskante entlangstaksen, ohne sich von dem Fauchen aus dem Boden einschüchtern oder erschrecken zu lassen. Dann mache ich mich wieder auf den Weg – natürlich barfuß. Der sandige Pfad zwischen dem Heidekraut ist erneut eine Wohltat für die Fußsohlen…

Nach einer erholsamen Nacht bin ich wieder mal der Letzte gewesen, der zum Frühstück die Treppe hinunterstieg. Javier hatte für uns Toastbrot und Marmelade serviert, dazu gab es Kaffee und Tee. Nachdem ich meinen Rucksack gepackt hatte, habe ich mich von Javier herzlich verabschiedet und noch ein Foto von ihm geschossen. In die Spendenbox habe ich einen großzügigen Obolus hineingelegt – ich finde das Engagement des jungen Spaniers für die Jakobswegpilger ebenso bewunderns- wie unterstützenswert.

Der Weg raus aus Pendueles war unspektakulär, aber trotzdem schön. Was für ein Geschenk, in solch einer herrlichen Landschaft mit spektakulären Buchten und den Berggipfeln auf der anderen Seite wohnen zu dürfen. Nach einem Kilometer bin ich am Playa de Bretones vorbeigekommen (keine Ahnung, warum der so heißt) und bin dann am Friedhof von Vidiago nach rechts in Richtung Steilküste und Bufones abgebogen.

Gerne würde ich noch ein wenig länger direkt an der Küste entlanglaufen, doch Zäune und ein ungnädiger Ziegenhirte mit Hund, der – offenbar genervt durch die vielen Touristen und Pilger – energisch darauf hinweist, dass ich mich auf seinem Stück Land befinde, zwingen mich auf den „offiziellen“ Weg zurück. Dieser ist aber in Sachen Schönheit auch nicht zu verachten. Ich lasse ein wenig die Seele baumen, bis ich einen Eukalyptuswald erreiche.

In dem Wald verliere ich kurz die Orientierung, weil an einer Kreuzung ein Witzbold sämtliche Wegweiser entweder übermalt oder gleich ganz herausgerissen hat. Ich bin zunächst nicht sicher, ob ich die richtige Richtung eingeschlagen habe, werde dann aber bald darauf bestätigt, als ich den „spektakulären Aussichtspunkt“ erreiche, den mir mein Führer angekündigt hat. Tief unter mir, in einem Taleinschnitt, windet sich der Fluss Purón durch die felsige Landschaft. Farne begrünen die Uferböschungen, Vögel zwitschern, und die Sonne scheint durch die Baumwipfel. Ein wahrhaft magischer Ort, an dem ich gerne eine kleine Pause einlege, um die tolle Aussicht zu genießen.

Dann folge ich weiter dem Kiesweg, der mich steil bergab zu einer Holzbrücke über den Purón bringt. Ein Schild teilt mir mit, dass maximal 20 Personen gleichzeitig das Bauwerk betreten dürfen. Zum Glück habe ich zuhause noch ein wenig abgenommen. Ich überquere die Brücke, bewundere die Spiegelungen auf der grün schimmernden Wasseroberfläche und genieße das Rauschen des Flusses. Auf der anderen Seite angekommen, geht es wieder steil bergauf.

Kurz vor dem Dorf Andrín wartet ein weiteres Schauspiel auf mich: Schon von weitem habe ich Kuhglocken gehört, als ich jedoch die Weide erreiche, befinden sich dort keine Kühe oder Ziegen. Stattdessen grast hier eine Herde Pferde – und jedes Tier hat eine Glocke um den Hals. Ich gehe weiter und erreiche den Dorfplatz von Andrín. Laut Führer soll es hier einen Laden geben. Ich schaue mich ein wenig um, aber von einem Supermarkt oder wenigstens einer Alimentation ist weit und breit nichts zu sehen. Ich fülle meine Flasche an einem Brunnen und stoße dann auf ein Dorfgasthaus. Eine rustikale Holzbalken-Konstruktion lädt draußen dazu ein, Platz zu nehmen. An einem der Tische haben sich bereits zwei Pilger niedergelassen – ein Ehepaar aus den Niederlanden, wie ich kurz darauf erfahre.

Ich entscheide mich, die Suche nach dem Laden aufzugeben und stattdessen hier eine Kleinigkeit zu essen. Eigentlich gelüstet es mich nach einem Bocadillo, doch der Niederländer empfiehlt mir die Tortilla. Ich lasse also meinen Rucksack auf einem Plastikstuhl und gehe ins Innere der Gaststätte. Leise dudelt Musik durch den menschenleeren Raum. Hinter dem Tresen wartet der Wirt mit seiner Frau auf Kundschaft. Ich bestelle ein Stück Tortilla und einen Kaffee und geselle mich wieder zu meinem Rucksack. Die beiden Niederländer beenden ihre Pause; die Frau schenkt mir noch ihre halbvolle Flasche Mineralwasser, die sie nicht ganz trinken konnte und offenbar nicht mitnehmen will.

Dann bekomme ich die Tortilla gebracht. Ich genieße die warme Leckerei und schlürfe den ebenso vorzüglichen Kaffee. Ich frage den Wirt, warum die Pferde auf der Koppel alle Kuh- glocken um den Hals tragen. Die Antwort ist so einfach wie einleuchtend: „Damit man weiß, wo sie sind.“ Ich zahle und mache mich dann wieder auf den Weg, nachdem ich mir nochmal eine dicke Schicht Sonnencreme gegönnt habe – die Sonne brennt heute wieder ganz schön vom Himmel.

Es geht noch ein Stück durch den Ort, dann darf ich rechts den Berg hinauf. Der Anstieg hat es in sich. Mir läuft der Schweiß von der Stirn – zudem muss ich grinsen: Das Gebimmel der Pferdeglocken ist bis hier herauf zu hören. Auf der Landstraße stapfe ich weiter den Berg hinauf und freue mich über den Schatten, den die Bäume am Wegesrand spenden. Schließlich bin ich oben angekommen. Mir bleibt mal wieder der Mund offenstehen: Was für eine grandiose Sicht auf das Meer bietet sich von hier oben.

Der Führer berichtet von einem Aussichtsturm, der rund 200 Meter entfernt sein soll. Tatsächlich entdecke ich einen Betonklotz, zu dem eine Treppe hinaufführt. Kurz darauf bin ich dort angekommen, stelle den Rucksack an einen Stein und erklimme die Stufen. Als ich auf der Plattform stehe, ist es um mich geschehen: Das ist der schönste Ausblick, den ich bislang auf dem Camino genießen durfte. Die Sicht auf das tiefblaue, von der Sonne beschienene Meer toppt sogar den Blick von der Herberge Santa Klara hoch über Zumaia.

Unter mir entdecke ich einige atemberaubende Buchten. Sanft plätschern die Wellen auf den halbkreisförmigen Sandstrand. Auch hier stehen im Wasser einige imposante Felsen. Nur wenige Kilometer entfernt, auf der anderen Seite, erheben sich stolze Berge. In der Ferne leuchten die Gipfel der Picos de Europa. Was für eine sagenhafte Landschaft Asturien zu bieten hat – Maritimes und Montagne fast auf einem Fleck.

Ich drehe ein kleines Video für die Familie und schieße zahlreiche Panoramafotos, die es kaum schaffen, die grandiose Szenerie einzufangen. Dann stehe ich einfach da und genieße die Aussicht. In einiger Entfernung kann ich auch schon das Ziel meiner heutigen Etappe erkennen: dort liegt die Hafenstadt Llanes.

Kurz darauf muss ich die Plattform mit ein paar älteren Damen teilen, die keuchend die Treppe hochgestiegen kommen. Es dauert nicht lange, da sind wir in einem netten Gespräch, wenn man das deutsch-englisch-spanische Kauderwelsch so nennen kann. Eine Dame erzählt mir von Verwandten in Deutschland, ich berichte von meinem bisherigen Camino.

Es hilft alles nichts, ich muss jetzt weiter, auch wenn ich gut und gerne noch eine Stunde hier hätte stehen können. Als ich die Treppe runtergestiegen bin, umrunde ich den Betonturm und stelle fest, dass auf der Rückseite eine Art Sitzecke in den Beton eingelassen ist. Offenbar hat sich doch jemand designmäßig an dem Bauwerk versucht, auch wenn es aus der Ferne eher klobig daherkommt.

Laut Führer wartet nun ein Panoramaweg auf mich, der schöne Ausblicke auf die Küste bieten soll. Und der Autor des Buches hat nicht übertrieben: Auf einem Bergrücken windet sich der Pfad auf Llanes zu, rechts habe ich einen tollen Blick ins Tal und auf einige weitere Buchten. Nur eine einzige Sache stört die Idylle: Ich habe nicht genug zu trinken mitgenommen. Die Sonne meint es immer noch (zu) gut mit mir, die Flasche ist schon zu zwei Dritteln leer – und ich habe noch vier, fünf Kilometer vor mir.

Als ich gerade anfange zu überlegen, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin, geht es kräftig bergab. Mit den Flip-Flops komme ich mehr als einmal ins Rutschen. Ausziehen kann ich die Treter nicht, auch wenn ich dann sicher mehr Grip und Halt hätte, denn der Weg ist übersät von teilweise scharfkantigen Steinen. Nach einigen Biegungen erreiche ich die Kapelle Cristo del Camino. Ich traue meinen Augen nicht: die Tür steht offen.

Als ich näherkomme, sehe ich auch wieso: Das Kirchlein wird gerade renoviert, zwei Arbeiter packen Werkzeug in einen Pickup – und schließen zu meinem Leidwesen das Eingangsportal ab. Offenbar machen sie sich für die Mittagspause bereit – oder für die Siesta, wer weiß das schon…

Ich bleibe stehen, mache ein paar Fotos und versuche durch das vergitterte Fenster einen Blick auf den Altar zu erhaschen. Doch in dem Kirchlein ist es zu dunkel, ich kann praktisch nichts erkennen. Zu meiner großen Überraschung steht plötzlich einer der Arbeiter neben mir und fragt mich, ob ich in die Kapelle hinein möchte. Als ich freudig nicke, holt er einen riesigen Schlüssel aus der Tasche und schließt mir auf.

Ich betrete das Gotteshaus, schaue mich kurz um, mache ein Foto und gehe dann wieder nach draußen – zu lange will ich den Mann nicht von seiner sicherlich verdienten Pause abhalten. Der Arbeiter schließt hinter mir ab, dann steigt er zu seinem Kollegen in den Wagen und braust in einer riesigen Staubwolke davon. Ich warte ein wenig, bis sich der Dreck verzogen hat, und mache mich dann auf den Weg in Richtung Llanes.

Bald habe ich die Vorstadt erreicht. Ich lasse die im Führer erwähnte private Herberge links liegen, überquere einen Kreisel und gehe weiter in Richtung Stadtmitte. Heute will ich in der Herberge La Estación übernachten, die im Bahnhofsgebäude untergebracht ist. Auf der linken Straßenseite komme ich an einigen imposanten Villen vorbei, die auch schon bessere Tage gesehen haben. In einem Garten grasen einige Kühe. Wieder frage ich mich, wie man solche prachtvollen Häuser einfach dem Verfall überlassen kann, statt sie zu erhalten – und vielleicht sogar Geld damit zu verdienen.

Nach einem weiteren Kilometer stehe ich vor der zentralen Brücke – und entdecke dort zahlreiche Pilger, darunter auch einige mit Fahrrad. Auch die Franzosen, die ihren Camino in der Bretagne begonnen haben, sehe ich dort wieder. Mich beschleicht ein latent panisches Gefühl: Was, wenn die Herberge schon wieder voll ist? Das Haus bietet zwar 40 Betten, ist aber vielleicht ebenfalls – wie in Noja – mit Badetouristen belegt. Ich lege einen Schritt zu, denn ich will heute weder zurück zur privaten Herberge vor Llanes noch einen Ort weitergehen müssen. Zum einen will ich nachher die berühmten Cubos de la memoria im Hafen besichtigen, zum anderen wenn möglich ins Meer hüpfen. Außerdem hält der Führer einen vielversprechenden Restauranttipp bereit.

Kurz darauf stehe ich vor dem Eingang der Herberge; ein langgestreckter, etwas schmuddeliger Bau – ein Bahnhof eben. Direkt auf der anderen Seite des Gebäudes fahren die Züge ab. Ich bin gespannt, ob ich davon lärmmäßig etwas mitbekommen werde. Aber da ich ja bislang alle Versuche diverser Waldarbeiter, meine Nachtruhe zu stören, überstanden habe, werden mir die paar Züge auch nicht den Schlaf rauben. Wenn ich überhaupt ein Zimmer bekomme – denn die Herberge scheint schon gut belegt zu sein, was die große Anzahl an Jugendlichen vermuten lässt.

Ich trete ein und treffe auf eine Frau mittleren Alters, die lei- der kein Englisch spricht. Ich versuche auf Spanisch zu sagen, dass ich gerne ein Bett hätte (ach – was sollte ein Mann mit ei- nem Rucksack sonst in einer Herberge wollen?). Sie überschüttet mich zunächst mit einem spanischen Wortschwall. Als sie in mein verständnisloses Gesicht blickt, schiebt sie mir seufzend einen Zettel über die Theke. Darauf steht in mehreren Sprachen (allerdings nicht in Deutsch), dass in der Herberge eine Jugendgruppe logiert und ich mir genau überlegen soll, ob ich wirklich hier schlafen will – es könnte nachts laut werden.

Ich kratze mein Acht-Wochen-Spanisch aus den Hirnwindungen und versuche der Frau zu verdeutlichen, dass ich an Lärm gewöhnt bin, da ich selbst sieben Kinder habe. Ich will deshalb auf jeden Fall ein Bett haben. Die Dame schaut mich skeptisch an. Habe ich wieder irgendwelche Vokabeln verwechselt? Dann hackt sie auf den Computer ein, druckt ein Blatt aus und kassiert 10 Euro. Ich bekomme einen Schlüssel („passen Sie gut drauf auf, es gibt nur einen pro Zimmer“) und führt mich in den ersten Stock, den tatsächlich zahlreiche Jugendliche unsicher machen. Das Zimmer ist ein Schlauch, in dem drei Doppelstockbetten und ein paar Metallspinde stehen.

Ich belege ein Bett, bedanke mich und entere direkt danach das kleine Badezimmer. Nach einer Dusche und dem Wäschewaschen entscheide ich mich, die nassen Sachen nicht aufzuhängen, sondern den Trockner des Hauses zu nutzen. Der ist allerdings grade belegt – die Wäsche muss also noch ein wenig vor sich hin tropfen.

Ich inspiziere das Haus. Es gibt unter anderem einen großen Essensraum mit einer komplett eingerichteten Küchenzeile. Eine gute Gelegenheit, sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu werfen. Ich lasse den Zimmerschlüssel an der Rezeption zurück und grüße die Herbergswirtin, die mich immer noch misstrauisch beäugt. Vor der Tür stehen die fünf Franzosen – sie bekommen die Auskunft, dass nur noch drei Betten im Haus frei sind. Zu wenig für die ganze Gruppe, weshalb sich die Pilger trollen. Zwei andere Pilger mit Fahrrädern kommen dagegen noch unter.

In einer Nebenstraße entdecke ich einen Supermarkt. Neben der Pizza finde ich noch eine kühle Cerveza und etwas Süßes. Mit der Tüte (schon wieder Plastik…) in der Hand gehe ich zurück zur Herberge. An der Tür hängt mittlerweile das Schild „Completo“. Ich bin froh, dass ich auf dem schönen Panoramaweg nicht noch mehr getrödelt habe, sonst hätte ich bettmäßig in die Röhre geschaut.

In die Röhre schaue ich jetzt trotzdem – nämlich in die Ofenröhre, der ich die nicht mehr ganz tiefgekühlte Mafiatorte anvertraue. Der Trockner ist mittlerweile fertig, allerdings ist die Wäsche noch in der Trommel. Ich öffne die Trocknertür und stelle fest, dass darin keine Wäsche, sondern Bettzeug langsam erkaltet. Ich gehe zur Frau an der Rezeption zurück und schildere mein Problem. Wieder schaut mich die Dame komisch an – was habe ich nur getan? Stört es sie, dass ich barfuß durch die Herberge laufe? Hat sie einen schlechten Tag?

Während sie den Trockner leerräumt, hole ich meine nasse Wäsche aus dem Zimmer. Kurz darauf rattert das Gerät wieder – und meine Pizza ist auch fertig. Ich setze mich an einen Tisch, nachdem ich in einem Schrank einen großen Teller und in einer Schublade das Besteck gefunden habe – kritisch beäugt von der Herbergswirtin. Dann tritt die Frau näher und fragt mich, ob ich wirklich sieben hijos hätte. Bestimmt hätte ich mich versprochen und hätte sieben hermanos. Nein, ich habe keine sieben Brüder, sondern tatsächlich sieben Kinder, bekräftige ich und zücke mein iPhone, um ihr das Foto von der Familie zu zeigen, das mir meine Frau vor ein paar Tagen geschickt hat.

Sie schaut lange auf das Bild, dann hellt sich ihre Miene auf. Sie dreht sich um und geht aus dem Zimmer, kommt aber wenige Augenblicke später zurück und hat nun ihr eigenes Handy in der Hand. Sie tippt und wischt eine Weile darauf herum, während ich meine Pizza knuspere und deren Barbecue-Geschmack mit einer Cerveza garniere. Dann streckt sie mir das Handy entgegen und zeigt mir das Foto eines jungen Mannes. „Mein Sohn“, erklärt sie mir. Ich erfahre, dass er 30 Jahre alt ist, einen technischen Beruf erlernt hat und gerne Sport treibt. Ob er schon Kinder hat, frage ich. „Kinder?“, fragt die Wirtin zurück. „Nein, Kinder hat er nicht.“ Sie blickt ein wenig versonnen in die Ferne, kehrt dann mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück und macht sich wieder daran, den Boden feucht zu wischen.

Lange ist der Schrubber allerdings nicht in Betrieb, denn schon nach wenigen Minuten ist die Frau wieder an meinem Tisch und stellt einige Fragen zu meiner Familie und meinem Camino. Ich antworte bereitwillig und freue mich, dass die Dame nun ihre freundliche Seite hervorgekehrt hat. Als ich kurz darauf erneut die Herberge in Richtung Stadt verlasse, nickt sie mir hinter der Theke zu.

Llanes hält immer noch Siesta, die meisten Bars und Geschäfte sind geschlossen. Ich gehe durch die Gassen und stehe bald vor der Kirche, die natürlich ebenfalls dicht ist. Wenigstens hängt außen ein Schild mit den Messzeiten – wenn alles klappt, will ich heute Abend noch den Gottesdienst besuchen. Die Touristinfo ist ebenfalls noch zu, an einer Stele finde ich aber einen Plan der historischen Altstadt. Ich fotografiere ihn ab und mache dann einen kleinen Rundgang. Die Stadt hat ebenfalls eine bewegte Geschichte und dementsprechend zahlreiche ebenso alte wie imposante Gebäude zu bieten.

Dann schlage ich den Weg in Richtung Hafen ein. Ich gehe barfuß die Kaimauer entlang und stehe kurze Zeit später vor den Cubos de la memoria, den Erinnerungswürfeln. Es handelt sich um große Betonklötze, die als Wellenbrecher dienen und aussehen, als hätte ein Riese seinen Knobelbecher ausgeschüttet. Vor etwa 15 Jahren hat ein spanischer Künstler die Steinkolosse bunt bemalt. Viele Klötze haben „nur“ ein farbiges Muster, andere dagegen sind mit Blumen, Obst oder Pflanzen verschönert – ein tolles Bild.

Ich schaue ein wenig aufs Meer hinaus und konsultiere dann den abfotografierten Stadtplan – jetzt will ich an den Strand. Nach ein paar Minuten Fußweg stehe ich an der Promenade vor einem halbkreisförmigen Stadtstrand – klein, aber fein. Er ist zwar bei weitem nicht so schön wie die Buchten zwischen Pendueles und Llanes, doch der Weg dahin ist mir zu weit. Außerdem will ich ja nur kurz ins Wasser hüpfen. Kurz ist nicht untertrieben, wie ich feststellen muss – das Wasser ist ziemlich kalt. Zudem herrscht ein ordentlicher Wellengang, der mir eine Monsterportion Sand in die Hose spült.

Ich schaue noch ein wenig einer Gruppe Jugendlicher zu, die im Sand Ball spielt und ausgelassen herumtollt, dann mache ich mich auf den Rückweg zur Herberge. Dort befreie ich mich von den Sandkörnern und ziehe mich um für die Messe und das Restaurant. Zu meinem großen Bedauern ist in Llanes kein weiteres bekanntes Pilgergesicht abgestiegen. Ich werde heute also – wenn nicht noch ein Wunder passiert – den Abend alleine verbringen müssen.

Die Kirche ist gut besucht; als ich hereinkomme, tritt der Priester gerade an den Altar. Mir springt ein adipöser junger Mann einige Bänke vor mir ins Auge: Er trägt ein „Hell’s Bells“- T-Shirt – genau die richtige Bekleidung für einen katholischen Gottesdienst, denke ich.

Als die Messe vorbei ist, schlendere ich ein wenig durch die Altstadt, die sich nun mit Leben füllt. Immer mehr Bars und Restaurants öffnen, die Gassen sind voll mit Menschen. Ich betrachte mir noch einmal die Brücke über den Fluss, die ich heute mittag so eilig überquert habe, und schlage dann den Weg zu dem Restaurant ein, das mir der Führer empfohlen hat. Es hat offen, auch wenn vor der Eingangstür eine Großbaustelle ist. Leider kann man wegen der Buddelei nicht draußen sitzen, aber das Innere hat ein nettes Ambiente. Ich suche mir einen Tisch, von dem aus ich durch die geöffnete Terrassentür auf die Gasse schauen kann.

Der Kellner bringt mir gleich zwei Speisekarten – netterweise ist die eine auf Englisch. Ich stelle mir ein Menü zusammen und bekomme dann eine Flasche Vino tinto hingestellt – natürlich kühlschrankkalt, wie es hier in Spanien üblich zu sein scheint. Ob ich die alleine schaffen werde? Schnell kommt der erste Gang. Ich schaue den Kellner entgeistert an, als ich die Portion sehe. Hat er noch eine weitere Person an meinem Tisch gesehen? Wie soll ich danach noch Hunger haben, um den zweiten Gang zu schaffen?

Ich mache mich an die „Arbeit“. Das Essen ist vorzüglich – und das zu einem wirklich humanen Preis. Ich bin begeistert. Lediglich der Wein ist nichts Besonderes, dafür aber so leicht, dass ich tatsächlich nach dem zweiten Gang (der mengenmäßig glücklicherweise ein wenig bescheidener ausfällt) die Flasche geleert habe. Nach einem Kaffee zum Nachtisch zahle ich und kämpfe mich durch die Menschenmassen nach draußen – offenbar ist mittlerweile die halbe Stadt in diesem Restaurant zu Gast.

Zurück in der Herberge, hat sich mein Zimmer inzwischen gefüllt. Ich teile das Zimmer mit einigen Spaniern, die zum Surfen hierher gekommen sind. Im Haus treffe ich zahlreiche Jugendliche, die ich zuvor am Strand gesehen habe. Ich gehe noch einmal nach unten, um vor dem Haus eine Cerveza zu trinken. Vor der Tür stehen einige Holzbänke im Halbkreis, auf denen sich mehrere andere Gäste niedergelassen haben. Ich plaudere ein wenig mit den Betreuern der Jugendgruppe, lege mich dann auf einer der Bänke lang und schaue in den Sternenhimmel.

Morgen ist mein letzter „richtiger“ Camino-Tag. Mein Schatz hat mir eine Nachricht geschickt und mir empfohlen, an diesem letzten Tag nicht weiterzulaufen, sondern in Llanes zu chillen, um Kraft zu tanken für den Alltag. Ich weiß aber nicht, ob ich das will. Natürlich ist es verlockend, noch einen Tag in dieser schönen Stadt zu verbringen und vielleicht sogar mit dem Bus zu einer der traumhaften Buchten zu fahren. Allerdings will ich auch am letzten Tag noch Pilger sein, kein Tourist. Ausruhen kann ich auch noch am Rückreisetag, mein Flieger in Santander geht schließlich erst am Abend. Doch entscheiden werde ich mich erst morgen früh…

Der Bericht über meinen Camino del Norte ist auch als Taschenbuch und eBook verfügbar: „Der Weg gibt Dir, was Du brauchst!“ – 400 Kilometer zu Fuß auf dem Camino del Norte

 

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Hi, ich bin descalces. Seit 20 Jahren weitgehend barfuß unterwegs - so oft es geht, auch auf dem Jakobsweg...

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